junge Welt, 15. November 2010

Besatzer sperren aus

junge Welt, 15. November 2010Marokko will keine Zeugen für sein Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung in der besetzten Westsahara. Am Sonnabend verweigerten die Behörden des nordwestafrikanischen Landes der linken Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen die Einreise nach Al-Aaiún, der Hauptstadt des seit 1975 von Rabat besetzten Landes. Die Parlamentarierin, die sich eine Woche nach dem brutalen Vorgehen der marokkanischen Sicherheitskräfte gegen ein Protestcamp von Sahrauis selbst ein Bild von der Lage machen wollte, wurde unter sexistischen Beschimpfungen zurück ins Flugzeug gezerrt und abgeschoben. »Ganz offensichtlich hat Marokko Angst vor der Wahrheit und will verhindern, daß die Öffentlichkeit von den Verfolgungen und Massakern an der sahrauischen Bevölkerung aus erster Hand erfährt«, erklärte die Abgeordnete gegenüber junge Welt. »Wenn Marokko bereits mit Parlamentariern, die diplomatischen Status genießen, so umgeht, kann man sich vorstellen, wie es die Machthaber mit den Menschenrechten der sahrauischen Bevölkerung halten.« Die Zahl der durch das Vorgehen der marokkanischen Truppen gegen die Zivilbevölkerung in der vergangenen Woche getöteten Menschen wird mittlerweile auf mindestens 60 geschätzt.

Dagdelen war am Sonnabend morgen über Casablanca nach Al-Aaiún geflogen. An der Paßkontrolle wurde Dagdelen von aggressiven Geheimdienstleuten und Grenzern aufgehalten. Obwohl die Abgeordnete in Casablanca den Transitbereich des Flughafens nicht verlassen hatte, bemängelten die Beamten das Fehlen eines marokkanischen Einreisestempels. Sie ließen sich auch von einem französischen Mitreisenden nicht umstimmen, der die Grenzer darauf hinwies, daß er ebenfalls noch keinen Stempel im Paß habe, weil er ja nun erst einreisen wolle. Statt dessen wurde Dagdelen mehrfach von den Beamten beleidigt und schließlich zurück in das Flugzeug gezerrt, das sie zurück nach Casablanca brachte. Auch die von ihr verständigte deutsche Botschaft in Rabat konnte ihr nicht helfen und legte ihr nahe, sich der Abschiebung zu fügen, da die marokkanischen Sicherheitskräfte »auch noch unangenehm werden« könnten.

Der Linkspartei-Vorsitzende Klaus Ernst forderte Bundesaußenminister Guido Westerwelle auf, bei dessen für heute geplanten Besuch in Marokko die Übergriffe gegen die Abgeordnete anzusprechen. Dieser sei »in der Pflicht, die Beschneidung der Rechte von Mitgliedern des Deutschen Bundestages zur Sprache zu bringen«. Die Bundesregierung dürfe nicht weiter »aus politischem und wirtschaftlichem Kalkül den Menschenrechtsverletzungen in dem von Marokko besetzten Gebiet tatenlos zusehen«. Während die marokkanische Botschaft in Berlin nicht für eine Stellungnahme zu erreichen war, wollte auch das Auswärtige Amt auf jW-Nachfrage am Sonntag keine Auskunft darüber geben, was Westerwelle mit seinem Amtskollegen, Marokkos Außenminister Taib Fassi Fihri, besprechen werde. Bislang hat die Bundesregierung sich öffentlich weder zu den Menschenrechtsverletzungen in der Westsahara noch zu dem Übergriff gegen eine Bundestagsabgeordnete geäußert. Für Dagdelen ist dies Heuchelei: »Sie freuen sich über die Freilassung von Aung San Suu Kyi in Myanmar, schweigen aber zu der seit 35 Jahren andauernden völkerrechtswidrigen Besetzung der Westsahara und zu den massiven Menschenrechtsverletzungen. Das ist empörend.«

Erschienen am 15. November 2010 in der Tageszeitung junge Welt