Befreiung aus der Tiefe

Schneller als erwartet ist am Mittwoch die Bergung der seit mehr als zwei Monaten in einer Goldmine in der chilenischen Atacama-Wüste verschütteten Bergleute vorangekommen. Bis jW-Redaktionsschluß war gut die Hälfte der 33 Kumpel mit einer engen Rettungskapsel ans Tageslicht gebracht worden. Dort wurden sie von ihren Familienangehörigen, unzähligen Medienvertretern und Chiles Staatschef Sebastián Piñera erwartet. Auch Boliviens Präsident Evo Morales war in den Morgenstunden nach San José gereist, um den als elften Kumpel befreiten Jorge Galleguillos zu begrüßen. Der Bolivianer hatte mit seinen 32 chilenischen Kollegen 70 Tage lang in einer Notkammer in 700 Metern Tiefe ausgeharrt, nachdem die Mine am 5.August eingestürzt war.

Nahezu unbeachtet von den Journalisten, die live in alle Welt über die Rettungsaktion berichteten, protestierten außerhalb des Lagers um das Bergwerk rund 300 Kollegen der Verschütteten. Sie hatten sich nach dem Unglück retten können, sind seither jedoch arbeitslos. Erst in der vergangenen Woche hatten sie vom Bergwerksunternehmen San Esteban Primera die Auszahlung ihrer Septemberlöhne erkämpfen können, doch noch immer müssen sie befürchten, daß die Betreiber der Mine das Unternehmen für bankrott erklären und sich damit um hohe Entschädigungszahlungen für ihre Arbeiter herumdrücken. Ende September hatte die chilenische Justiz die Beschlagnahme des Firmenvermögens angeordnet und damit auf Schadensersatzklagen der Familien von 29 der 33 verschütteten Bergleute reagiert. In einem Brief, den Angélica Alvarez, die Ehefrau des in dem Stollen gefangenen Bergmanns Edison Peña, im Beisein von Staatschef Piñera verlas, fordern diese von der chilenischen Regierung, die anderen Kumpel nicht im Stich zu lassen.

Tatsächlich wurden die Bergleute Opfer krimineller Machenschaften des Bergwerksunternehmens. Bereits 2008 war dessen Präsident Marcelo Kemeny Fuller wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden, nachdem zwei Jahre zuvor der Bergmann Fernando del Rosario Contreras in der über 100 Jahre alten Mine ums Leben gekommen war. Das Bergwerk war danach von den chilenischen Behörden stillgelegt worden, durfte jedoch unter Auflagen wieder eröffnet werden. Das Unternehmen ignorierte aber die Forderung, in den Lüftungsschächten Leitern als Notausgänge anzubringen. Das wurde den Anfang August verschütteten Bergleuten zum Verhängnis. Schon wenige Tage vor der Katastrophe war der Kumpel Gino Cortés Opfer eines Unfalls geworden, in dessen Folge ihm ein Bein amputiert werden mußte. »Das war eine letzte Warnung, die die spätere Tragödie hätte verhindern können, aber sie wurde ignoriert«, sagte dazu Angélica Alvarez, während sie auf ihren Ehemann wartete, der am Mittwoch als zwölfter an die Erdoberfläche zurückkehren konnte.

Erschienen am 14. Oktober 2010 in der Tageszeitung junge Welt