Außer Kontrolle

Auf mehrere zehntausend Menschen wird die Mitgliederzahl der Mara Salvatrucha und ähnlicher Banden in Zentralamerika geschätzt. Ursprünglich entstanden diese Gruppen in den USA als Zusammenschluß von Immigranten aus Lateinamerika, vor allem aus El Salvador. Sie waren seit den 80er Jahren vor Bürgerkriegen und wirtschaftlicher Not in ihrer Heimat in den reichen Norden geflüchtet. Dort versuchten die Einwanderer, sich gegen Übergriffe rivalisierender Gangs zu wehren. Schnell schlug diese Selbstverteidigung jedoch in Gewalt und Kriminalität um. Die US-Behörden reagierten darauf mit der massenhaften Abschiebung straffällig gewordener Jugendlicher in ihre Heimatländer. Damit exportierte Washington das Problem nach Zentralamerika, dessen Regierungen damit vollkommen überfordert waren.

Widerstand und Verbrechen

Heute sind die Banden der Mara Salvatrucha in Zentralamerika vor allem in Honduras, El Salvador und Guatemala aktiv und stellen hier für viele Heranwachsende die scheinbar einzige Perspektive dar, aus dem Elend und der Arbeitslosigkeit zu entkommen. Zugleich üben die Banden in den Gebieten, in denen sie besonders stark sind, auch Druck auf Unentschlossene aus, sich ihnen anzuschließen, während Menschen, die sich gegen sie zur Wehr setzen, in Lebensgefahr schweben. Zugleich dienen sie den Regierungen als Begründung für Repressionsmaßnahmen und den Einsatz von Todesschwadronen gegen mutmaßliche Anhänger der Gruppen. Die Sicherheitsbehörden und Gerichte sind mit der Bekämpfung des organisierten Verbrechens überfordert, wenn sie nicht sogar mit ihm unter einer Decke stecken.

Andreas Böhm, der als freier Autor überwiegend in Guatemala lebt, hat nun unter dem Titel „Teuflische Schatten. Zwei Frauen gegen die Mara Salvatrucha“ ein Buch vorgelegt, das den Einfluß der Kriminellen auf den Alltag der einfachen Menschen anhand eines konkreten Beispiels schildert. Er schreibt aus der Sicht von Sandra Lopez, einer jungen Frau aus Palencia, einer Ortschaft, die rund 28 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Guatemala liegt. „Aus dem Kind, das die Vorschule liebt, wird eine junge Frau, deren Leben außer Kontrolle gerät. In Sandras Bericht wird deutlich, wie aus liebenswerten kleinen Bengeln, die in Armut aufwachsen, gewalttätige Männer werden, die alle Skrupel abgelegt haben“, fa§t Andreas Boueke im Vorwort den Inhalt des Buchs zusammen.

Sandra Lopez ist keine Romanfigur. Die von Böhm aufgeschriebene Geschichte, die er in den Worten seiner Protagonistin erzählt, basiert auf einer Reihe von Gesprächen, die er mit ihr zwischen 2007 und 2010 geführt hat. Die Erzählung beginnt mit dem Tag ihrer Geburt am 25. August 1982 und begleitet Sandra durch ihre Kindheit und Jugend. Sie wird Mutter dreier Kinder und Gefährtin eines Mannes der Mara Salvatrucha, der sie schlägt und unterdrückt. Die junge Frau flieht vor der Gewalt der Bande, nachdem sie sich für die Aufklärung des Mordes an ihrer Mutter engagiert hatte. Aber schließlich sei sie trotz der Bedrohung nach Palencia zurückgegangen, schreibt Boueke auf den ersten Seiten und wünscht: „Vielleicht wird dieses Buch ja in Europa zu einem solch großen Erfolg, daß man auch in Guatemala davon erfährt. Für Sandra könnte das einen Schutz bedeuten – und Mittel, mit denen sie für sich und ihre Kinder ein neues Leben beginnen könnte.“

Blick auf den Alltag

Das Buch hätte einen solchen Erfolg tatsächlich verdient, denn es schließt eine Lücke auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. Bislang gibt es nur einige wenige Werke, die sich mit der heutigen Realität Guatemalas auseinandersetzen. Sie werfen vor allem einen soziologischen, sozialwissenschaftlichen Blick auf die zentralamerikanische Gesellschaft. Böhm gelingt es hingegen, den Leser in einem fesselnden Buch, das sich wie ein Krimi liest, in den Alltag gro§er Teile der guatemaltekischen Bevölkerung mitzunehmen – der hierzulande viel zu selten einen Platz in den Spalten der Zeitungen findet. Wichtig ist, daß der Autor in seinem Nachwort Hintergründe aufzeigt, die zu der heutigen Situation geführt haben. Dazu gehört vor allem der jahrzehntelange Bürgerkrieg mit mehreren hunderttausend Todesopfern, der erst 1996 mit einem Friedensabkommen beendet werden konnte. Allerdings stößt hier die angedeutete Gleichsetzung von Militärs, die planvoll Zehntausende Menschen ermordeten, und der sich dagegen auch bewaffnet wehrenden Guerilla sauer auf.

Anzumerken ist, daß der Untertitel, „Zwei Frauen gegen die Mara Salvatrucha“ auf eine falsche Fährte führt. Der Widerstand von Sandras Mutter gegen die Jugendbande, der zu ihrer Ermordung führt, bleibt ein Randaspekt. Viel belangvoller ist die Schilderung, wie die Mara weitgehend unspektakulär in die Lebenswirklichkeit der beiden Frauen eindringen. Das wird bedrückend eindringlich beschrieben, ist aber mit „gegen die Mara Salvatrucha“ nicht ganz korrekt beschrieben. Treffender wäre vermutlich ein „und“ gewesen.

Andreas Böhm: Teuflische Schatten – Zwei Frauen gegen die Mara Salvatrucha. Horlemann-Verlag, Berlin 2011, 297 Seiten, 19,90 Euro

Erschienen am 13. Februar 2012 in der Tageszeitung junge Welt