Aufstand in Chile: Oktoberrevolution

So hatte es sich der damalige Nationale Sicherheitsberater der USA, John Bolton, nicht vorgestellt, als er im Februar verkündete, dass Amerika bald der »erste freie Kontinent der Welt« sein werde. Es müsse nur noch die »Troika der Tyrannei« beseitigt werden: die »Regime« in Venezuela, Kuba und Nicaragua. Keine neun Monate später sind es nicht mehr die linken Regierungen Lateinamerikas, deren Sturz unmittelbar bevorzustehen scheint – es wanken die engsten Verbündeten Washingtons.

Vor wenigen Wochen noch lobte Chiles Präsident Sebastián Piñera in der britischen BBC sein Land als eine »Oase« inmitten eines unruhigen Kontinents. Kurz darauf sah er sich im »Krieg gegen einen mächtigen Feind«. Dieser war und ist niemand anderes als sein eigenes Volk. Als die Staatsmacht einen der üblichen Proteste gegen die Erhöhung der Fahrpreise bei der U-Bahn in der chilenischen Hauptstadt brutal niederschlagen ließ und das Militär gegen die Demonstranten einsetzte, explodierte die angestaute Wut. Auf einmal waren es nicht mehr nur Studierende und linke Gruppen oder die seit Jahrzehnten ausgegrenzten und kriminalisierten Mapuche, die sich der Staatsmacht entgegenstellten. Mehr als eine Million Menschen am Freitag allein in Santiago auf der Straße, zuvor ein zweitägiger Generalstreik, Ausnahmezustand und nächtliche Ausgangssperre – aus dem »Modell« des Neoliberalismus wurde quasi über Nacht ein Beispiel dafür, wie schnell das Schreckenswort »Revolution« auf die Tagesordnung eines kapitalistischen Staates zurückkehren kann.

»Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre« – die Wut richtet sich gegen ein System, dessen Regeln und Grenzen von der Diktatur festgelegt wurden. Auch 30 Jahre nach dem Abtritt Pinochets gilt in Chile noch immer die 1980 beschlossene Verfassung. Jahrzehntelang flossen zehn Prozent aller Einnahmen aus dem Kupferverkauf direkt in die Kassen der Streitkräfte. Ein von den Militärs durchgesetztes Wahlrecht garantiert den reaktionären Rechtsparteien überproportionale Vertretung in den Parlamenten.

Keine der sozialdemokratisch geführten Regierungen vergangener Jahre, auch nicht die der heutigen UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, hat sich an grundsätzliche Veränderungen herangetraut. Keine hat eine echte Abkehr vom Neoliberalismus gewagt. Deshalb richtet sich die Ablehnung vieler Demonstranten heute nicht nur gegen die regierende Rechte, sondern auch gegen die Linksparteien. Sie werden nicht als Alternative wahrgenommen, weil sie lange das jeweils »kleinere Übel« mitgetragen haben.

Möglicherweise wird es der herrschenden Klasse gelingen, die Lage durch Personalrochaden und einige soziale Maßnahmen vorübergehend wieder zu stabilisieren. Doch in Chile gibt es künftig ein »Vorher« und ein »Nachher«: Dieser Oktober 2019 hat bereits jetzt Geschichte geschrieben.

Erschienen am 28. Oktober 2019 in der Tageszeitung junge Welt