Aufgeben kommt nicht in Frage

»We Never Give Up« – Wir geben niemals auf. Unter diesem Motto begehen die Beschäftigten bei Amazon in diesen Tagen den zehnten Jahrestag des Beginns ihres Arbeitskampfes. Am frühen Morgen  des 14. Mai 2013, einem Dienstag, hatten insgesamt 1.700 Kolleginnen und Kollegen in Bad  Hersfeld und Leipzig zum ersten Mal die Arbeit niedergelegt, um ihrer Forderung nach Abschluss eines Tarifvertrages Nachdruck zu verleihen. ver.di fordert vom Konzern die Anerkennung der  Flächentarifverträge des Einzel- und Versandhandels. Ebenso wie die etwas später hinzugekommene  Forderung nach einem Tarifvertrag Gute und Gesunde Arbeit ist dieses Ziel bis heute nicht erreicht.

Doch die Erfolge können sich trotzdem sehen lassen. 2013 hatte der damalige Deutschland-Chef des  Onlinehändlers, Ralf Kleber, ver.di noch vorgeworfen, mit der Tarifforderung »überzogene  Erwartungen geschürt« zu haben. Doch seither sah sich Amazon gezwungen, praktisch jährlich die  Einkommen der Beschäftigten zu erhöhen, so dass zumindest die Stundenlöhne nicht mehr weit von den Tarifgehältern entfernt sind.

Das ist das Ergebnis des unermüdlichen Streitens Tausender Kolleginnen und Kollegen. Seit dem  Auftakt vor zehn Jahren gab es für Amazon keine Ruhe mehr. Ohne Pause wurde und wird der Konzern mit Streiks, Kampagnen und Aktionen unter Druck gesetzt. In den Medien wurde über die  miserablen Arbeitsbedingungen, Überwachung der Kolleginnen und Kollegen, Schikanen gegen aktive  Gewerkschafter und Betriebsräte berichtet.

Selbst während der Pandemie, als die Kampfbedingungen besonders kompliziert waren, gingen die Streiks weiter. Da Streikversammlungen mit tausenden Beschäftigten nicht möglich waren, versammelte man sich in den eigenen Fahrzeugen – »Streikkundgebung im Autokinoformat«. Weil  Demos schwierig waren, gab es Autokorsos. Und das war notwendig, denn während der Konzern  Rekordgewinne einfuhr, beeilte er sich nicht, die Kolleginnen und Kollegen vor dem Coronavirus zu  schützen. Ansteckungswellen in einigen Fulfillment Centern waren die Folge, vom Konzern nach Möglichkeit unter die Decke gekehrt. »Die jüngsten Medienberichte etwa über das Verbot von FFP2-Masken bei Amazon in Winsen/Luhe zeigen einmal mehr, wie notwendig verbindliche Regelungen bei  Amazon sind«, erklärte ver.di im Mai 2021, als sieben Versandzentren gleichzeitig die Arbeit  niederlegten.

Zugleich hielten wir auch in dieser Zeit an den Tarifforderungen fest: »Weder Einmalzahlungen,  Corona- und Streikbruchprämien oder die Ausgabe einzelner Aktien sind ein Ersatz für  existenzsichernde Tariflöhne.« Das gilt auch heute noch. Insbesondere die Kolleginnen und Kollegen in den untersten Gehaltsstufen verdienen noch immer spürbar weniger als Beschäftigte in  tarifgebundenen Handelsbetrieben – die Differenz beträgt auf das Jahr gerechnet mehrere tausend  Euro. Urlaubsgeld, wie es für Tarifbeschäftigte üblich ist, gibt es bei Amazon bislang nicht – und auch  das Weihnachtsgeld ist knapp bemessen. Die Wochenarbeitszeiten allerdings liegen noch über, die  Zahl der Urlaubstage unter den Festlegungen in den Tarifverträgen.

Doch die Kraft ist gewachsen und wächst weiter. Inzwischen ist ver.di bei Amazon so stark wie nie  zuvor. In praktisch allen Fulfillment Centern arbeiten Betriebsräte – auch das war vor zehn Jahren  noch undenkbar. Die Vernetzung der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften hat längst die nationalen  Grenzen überschritten: Koordiniert von der internationalen Dienstleistungsgewerkschaft  UNI Global Union beraten die bei Amazon aktiven Gewerkschaften regelmäßig über gemeinsame  Strategien und Aktionen. Ein Ergebnis ist der jährliche »Amazon Pay Day« im November, mit dem der  Konsumrausch zum »Black Friday« kritisch begleitet wird. Im vergangenen Jahr streikten an diesem Tag in Deutschland zehn Fulfillment Center gleichzeitig und zugleich die Kolleginnen und Kollegen in  Frankreich und den USA. Die britischen Beschäftigten, die damals noch nicht dabei sein konnten,  haben sich seit Jahresbeginn 2023 ebenfalls in die internationale Streikfront eingereiht. Und auch die Kolleginnen und Kollegen selbst haben sich organisiert und die »Amazon Workers International«  gegründet. Der Kampf bei Amazon geht weiter – We Never Give Up!

Erschienen im Mai 2023 im Magazin HANDEL Nr. 1/2023