junge Welt, 11. Juli 2015

Athen kapituliert

junge Welt, 11. Juli 2015Die ersten Proteste ließen nicht lange auf sich warten. Nur Stunden, nachdem die griechische Regierung die Liste ihrer »Sparmaßnahmen« veröffentlicht hatte, demonstrierten Rentner vor dem Finanzministerium in Athen gegen die neuen Einschnitte. Zudem rief die Gewerkschaftsfront PAME für Freitag abend zu Großkundgebungen in Athen und zahlreichen anderen Städten auf. Das neue Memorandum, wie die »Rettungspakete« in Griechenland genannt werden, sei »barbarisch« und ein »Armageddon für die Arbeiter«, erklärte die der Kommunistischen Partei nahestehende Organisation.

Das Maßnahmenpaket, das Athen in der Nacht zum Freitag nach Brüssel geschickt hat, unterscheidet sich in den meisten Punkten kaum von den Forderungen der EU, die erst am vergangenen Sonntag in einem Referendum von 61 Prozent der Griechen abgelehnt wurden. So soll das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre angehoben werden. Pensionäre müssen sich auf höhere Zuzahlungen im Gesundheitsbereich einstellen. Der Hafen von Piräus, Regionalflughäfen, das Mobilfunkunternehmen OTE und der Stromkonzern Admie sollen verkauft werden. Zudem sollen bislang besonders geschützte Wirtschaftsbereiche »geöffnet«, also ausländischen Konzernen ausgeliefert werden. Dazu gehört der Liste zufolge die Produktion traditioneller Lebensmittel.
10 Argumente für jW 7

»Offenbar sieht die griechische Regierung angesichts des Drucks von IWF, EZB und EU-Technokraten, geschlossener Banken und verzweifelter Menschen keinen anderen Ausweg mehr«, vermutete die Vizechefin der Linksfraktion im Bundestag, Sahra Wagenknecht, gegenüber jW. »Die Annahme des vorgeschlagenen Pakets läuft auf die Fortsetzung des fatalen Giftcocktails von Kürzungspolitik und sich verschärfender Wirtschaftskrise hinaus, das in den letzten Jahren ein Viertel der griechischen Wirtschaftskraft zerstört und die griechischen Schulden immer weiter erhöht hat.« Würde das Programm so beschlossen, gehe »die griechische Tragödie nur in eine erneute Verlängerung«, so Wagenknecht. »Die beantragten 50 Milliarden dienen wieder nur dafür, alte Schulden mit neuen Schulden zu bezahlen.« Nötig sei vielmehr ein deutlicher Schuldenschnitt, »wie Deutschland ihn nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten hat«. Einen solchen lehnt die Bundesregierung jedoch nach wie vor ab. Der Sprecher des Finanzministeriums, Martin Jäger, erklärte am Freitag in Berlin, auch bei einer Umstrukturierung komme es nicht in Frage, den Barwert der Schulden zu senken.

Vor Beginn einer Parlamentsdebatte am Freitag abend versuchte Ministerpräsident Alexis Tsipras die Abgeordneten seiner Syriza-Fraktion auf das neue Kürzungspaket einzuschwören. Man stehe vor wegweisenden Entscheidungen, deshalb müsse die Gruppe geeint und geschlossen bleiben, so der Regierungschef. Alle konnte er nicht überzeugen. »Es besteht die Gefahr, dass das ›Nein‹ des Volkes im Referendum sich in ein demütigendes ›Ja‹ verwandelt«, sagte Energie- und Umweltminister Panagiotis Lafazanis dem griechischen Rundfunk ERT. Drei Abgeordnete und zwei Führungsmitglieder von Syriza veröffentlichten eine Erklärung, in der sie sich für ein Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone anstelle eines Abkommens aussprechen. Der frühere Finanzminister Gianis Varoufakis kündigte an, der Parlamentssitzung »aus familiären Gründen« fernzubleiben.

Erschienen am 11. Juli 2015 in der Tageszeitung junge Welt