Annäherung in Santo Domingo

Venezuelas Außenministerin Delcy Rodríguez und ihr Amtskollege aus den USA, John Kerry, sind am Dienstag (Ortszeit) in Santo Domingo zusammengekommen, um über eine Normalisierung der Beziehungen zwischen ihren beiden Ländern zu sprechen. Anlass war die 46. Generalversammlung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die am gestrigen Mittwoch in der Dominikanischen Republik zu Ende ging. Kerry habe in der »konstruktiven Diskussion« seine Unterstützung für internationale Vermittlungsbemühungen bekräftigt, teilte anschließend der Sprecher des State Department, Mark Toner, in Washington mit. Kerry lehnte Forderungen der venezolanischen Opposition nach einem Ausschluss Venezuelas aus der OAS ab. »Wir denken nicht, dass eine Suspendierung konstruktiv wäre«, zitierte ihn die Nachrichtenagentur AFP. Auf Antrag von Generalsekretär Luis Almagro debattiert die Organisation am 23. Juni, ob sie die »Interamerikanische Demokratie-Charta« auf Caracas anwendet. Diese sieht vor, Länder von der Mitwirkung auszuschließen, wenn es dort zu einer »verfassungswidrigen Unterbrechung der demokratischen Ordnung« kommt. Angewandt wurde diese Regelung bislang nur 2009 nach dem Putsch in Honduras. Dagegen waren weder der Sturz von Staatschef Fernando Lugo 2012 in Paraguay noch die Amtsenthebung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff im Mai Anlass für die OAS zu solchen Maßnahmen. Als Reaktion auf den Antrag Almagros forderte Nicaraguas Regierung den Generalsekretär zum Rücktritt auf.

Venezuelas Präsident Nicolás Maduro begrüßte am Dienstag abend bei einer Veranstaltung in Caracas die »neue Etappe in den Beziehungen« zu den USA und schlug vor, dass beide Länder wieder Botschafter austauschen sollten. Wie die Washington Post berichtete, kündigte Kerry einen baldigen Besuch seines Unterstaatssekretärs Thomas Shannon in Caracas an, um weitere Schritte zu beraten. »Wir dürfen nicht in dieser alten rhetorischen Schlacht verharren. Wir müssen etwas erreichen, das die Bedürfnisse der Venezolaner befriedigt«, wird Kerry vom venezolanischen Fernsehsender Globovisión zitiert.

Seit 2010 werden die diplomatischen Vertretungen beider Länder nur von Geschäftsführern geleitet. Venezuelas Botschaft ist seit März komplett ohne Leitung, nachdem Maduro seinen Vertreter Maximilian Arveláez zurückgerufen hatte, um damit gegen das von der US-Administration verlängerte Dekret zu protestieren, in dem Venezuela als »Bedrohung« für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten bezeichnet wird.

Am Dienstag hielt sich Maduro mit Kritik an Kerry zurück und warnte lediglich, dass er als ehemaliger Außenminister genügend Erfahrung in »revolutionärer Außenpolitik« habe, damit ihn niemand »mit einem Schafspelz« täuschen könne. Schärfer attackierte Boliviens Präsident Evo Morales den US-Chefdiplomaten. Dieser glaube offenbar immer noch, dass Lateinamerika der Hinterhof der USA und die Völker deren Diener seien, erklärte Morales über den Internetdienst Twitter. »Wenn die OAS ein Instrument des Imperiums bleibt und nicht den Völkern dient, denke ich darüber nach, ob wir uns aus der OAS zurückziehen«, schrieb er.

Venezuelas Opposition wurde von der diplomatischen Annäherung zwischen Caracas und Washington auf dem falschen Fuß erwischt. Bis zum späten Dienstag abend war vom Rechtsbündnis MUD (Tisch der demokratischen Einheit) kein Kommentar zu hören. In mehreren Städten Venezuelas kam es allerdings auch an diesem Tag zu gewaltsamen Ausschreitungen, die von internationalen Medien als »Hungerrevolten« bezeichnet wurden. Augenzeugenberichten zufolge handelte es sich jedoch um organisierte Provokationen. So seien in der Stadt Cumaná im Osten Venezuelas von Oppositionspolitikern 200 Motorradfahrer für Plünderungen angeheuert worden, berichtete der sozialistische Abgeordnete Ricardo Molina. Einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters zufolge sollen bei den Auseinandersetzungen dort ein Mensch getötet und 27 weitere verletzt worden sein. Bürgermeister David Velásquez dementierte gegenüber junge Welt diese Meldung als falsch. Er verbot vorübergehend die Benutzung von privaten Motorrädern, um die Lage zu beruhigen, und rief die Bevölkerung zu »Ruhe und Frieden« auf.

Erschienen am 16. Juni 2016 in der Tageszeitung junge Welt