Alltag in La Vega

Wie in den meisten spanischsprachigen Ländern ist der 12. Oktober auch in Venezuela ein Feiertag. Während er anderswo jedoch als »Tag der Hispanität« oder gar als »Tag der Rasse« begangen wird, heißt er in Venezuela seit einigen Jahren »Tag des indigenen Widerstandes« und soll an den Kampf der Ureinwohner Südamerikas gegen die spanische Kolonialherrschaft erinnern. Die meisten Geschäfte sind geschlossen, im Stadtzentrum von Caracas finden offizielle Zeremonien statt, während sich in den Kindergärten und Vorschulen die Kleinsten »indianischen« Federschmuck basteln, den sie dann ganz stolz tragen, wenn sie von ihren Eltern abgeholt werden und zu einer der vielen Kulturveranstaltungen gehen, die an diesem Tag stattfinden.

Die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) nutzte diesen arbeitsfreien Freitag dazu, bei den jeweiligen Wahlbehörden ihre Kandidaten für die Regionalwahlen am 16. Dezember einzuschreiben. Wie in Venezuela inzwischen üblich, wurden diese inoffiziellen Wahlkampfstarts mit großen Kundgebungen gefeiert. Caracas blieb diesmal davon ausgenommen, denn die Hauptstadt wählt erst im kommenden April ihren Oberbürgermeister. So verfolgte die 19jährige Elymey die Kundgebungen zu Hause im Fernsehen. Sie ist stolz darauf, daß sie bei der Präsidentschaftswahl am 7. Oktober erstmals auch ihre Stimme abgeben konnte. Nachdem sie und ihre Mutter um drei Uhr nachts von der »Toque de Diana«, den Fanfarenstößen, mit denen die Anhänger von Hugo Chávez traditionell die Wahltage eröffnen, geweckt worden waren, beeilten sich die beiden Frauen, schnell zu ihrem Wahllokal zu gelangen. »Es ging ganz schnell und problemlos«, berichtete sie stolz im Gespräch mit junge Welt. »Um sechs Uhr hat das Wahllokal geöffnet, und um sieben Uhr waren wir schon wieder zu Hause.« In den Tagen zuvor hatte sie sich an den »Patrouillen« der PSUV zur Mobilisierung der Wahlberechtigten beteiligt. Ziel war, daß jeder einzelne zehn weitere überzeugen sollte, zur Wahl zu gehen – und natürlich für Chávez zu stimmen. Elymeys Abstimmungszentrum lag gleich um die Ecke, in der Grundschule »Amanda de Schnell«. Auch vor dieser bildeten sich am Vormittags lange Schlangen. Die Wahlbeteiligung lag hier bei mehr als 82 Prozent – und damit noch höher als im Landesdurchschnitt.

Zu Hause sind Elymey und ihre Mutter Meiver in El Carmen, einem Barrio des Bezirks La Vega, in dem die Errungenschaften der Regierung Chávez deutlich zu spüren sind. Neben dem für seine revolutionären Traditionen bekannten 23 de Enero gehört La Vega zu den Stadtteilen von Caracas, die als besondere Hochburgen des bolivarischen Prozesses gelten. Die Herzen, die hier für die wiedergewählte Regierung schlagen, sind in diesen Vierteln überall an die Wände gemalt worden. Der Slogan auf den Wahlplakaten »Das Herz Venezuelas schlägt oben«, der sich eigentlich auf den Platz Chávez’ auf dem Stimmzettel bezog, bekam hier noch eine andere Bedeutung: La Vega liegt oben an den Berghängen, die das Zentrum der Hauptstadt umgeben. Wer hier hoch will, muß sich auf den Motor und die Bremsen seines Autos verlassen können.

Elymey und Meiver teilen sich eine kleine, fensterlose Kellerwohnung mit einem Schwarm Goldfischen und zwei aufgeweckten Cockerspaniel. Die Unterkunft ist weitgehend selbstgebaut. Die Treppenstufen sind mit Fliesen gelegt, die eine Freundin beim Bau ihres Badezimmers übrigbehalten und den beiden Frauen geschenkt hatte. Die Toilette ist nur mit Plastikvorhängen vom Wohnbereich abgetrennt, doch in der ganzen Wohnung herrschen Ordnung und Sauberkeit.

Obwohl La Vega bei den Einwohnern der nobleren Viertel von Caracas als Hochburg von Gewalt und Kriminalität betrachtet wird, ist davon hier nichts zu spüren. Die Tür der Wohnung zur Straße ist tagsüber praktisch immer geöffnet, ständig kommen Nachbarn oder Freunde auf eine Plauderei vorbei und sind immer herzlich willkommen.

Wenige Meter entfernt von der Wohnung liegt ein erst vor einigen Monaten neu angelegter Basketballplatz, auf dem sich Kinder tummeln, der aber auch von Sportmannschaften genutzt wird. An der Mauer, die den Sportplatz von der Straße trennt, sind auf einem Wandbild die Nationalhelden Simón Bolívar und Francisco de Miranda zu sehen, die – als Kinder dargestellt – zwei Drachen steigen lassen: die nach ihnen benannten Fernmeldesatelliten Venezuelas. Direkt neben dem Platz liegt das Gebäude der kubanischen Ärzte, in dem diese den Bewohnern des Viertels kostenlos Gesundheitsvorsorge, Untersuchungen und Behandlungen anbieten. Ein Stockwerk höher hat Venezuelas Regierung ein »Infocentro« eingerichtet. In diesen Zentren können alle kostenfrei die hier stehenden Computer mit Internetzugang nutzen und Kurse besuchen, in denen Kenntnisse im Umgang mit den neuen Medien vermittelt werden.

Elymey hat nur wenig Zeit, dieses Zentrum zu nutzen, denn sie studiert an der Universität der Streitkräfte (UNEFA) – die unter Chávez auch für die normale Bevölkerung geöffnet wurde – Krankenpflege und will Ärztin werden. Ermöglicht wird ihr das Studium durch Fördermaßnahmen der Regierung. »Ich bekomme Gutscheine für die Busfahrt, die Kopien sind billig, und ich kann an der Hochschule kostenlos die Rechner und die Bibliothek nutzen«, erzählt sie. »Ohne Chávez hätte ich nie studieren können.«

Auch Meiver, die als Sekretärin nur den gesetzlich vorgeschriebenen monatlichen Mindestlohn von umgerechnet 368 Euro verdient, will sich weiterbilden. Die wißbegierige Frau beginnt im Januar ein Jurastudium, um Anwältin zu werden – nach Feierabend. Möglich macht dies die Bolivarische Universität, die Studiengänge im Dreischichtbetrieb anbietet. Die ersten Kurse starten um sieben Uhr morgens, während die letzten erst um 22 Uhr enden, damit die Studierenden sie so auswählen können, daß sie Arbeit und Lernen miteinander verbinden können. Das Studium ist selbstverständlich kostenfrei.

Die beiden können daher nicht verstehen, daß trotz all solcher Errungenschaften jeder Dritte ihrer Nachbarn die Opposition gewählt hat, die hier 33,72 Prozent bekam. Doch klarer Wahlsieger war Hugo Chávez. 65,88 Prozent der Einwohner von El Carmen stimmten am 7. Oktober für ihn.

Erschienen am 16. Oktober 2012 in der Tageszeitung junge Welt