Zweierlei Maß

Ob es am Sonnabend in Madrid tatsächlich eine oder zwei Millionen Menschen gewesen sind, die gegen die Kürzungspolitik von Regierung und EU protestierten, oder »nur« mehrere hunderttausend, sei dahingestellt. Die Behauptung der Behörden, es seien 36000 gewesen, braucht man nicht ernst zu nehmen. Doch beunruhigen muß die Zahl von 100 Verletzten. Es war gespenstisch, als mitten in den Gesang des Chors »La Solfónica«, der zum Abschluß der Kundgebung gerade die »Ode an die Freude« aus Beethovens neunter Symphonie anstimmte, plötzlich die Schüsse der spanischen Polizei knallten.

 

Spaniens Regierung ist nicht bereit, Widerspruch zuzulassen. Gestützt auf ihre absolute Mehrheit im Parlament verweigert sich die einst von Eliten der Franco-Diktatur gegründete Volkspartei PP jedem Dialog – sei es mit der parlamentarischen Opposition, sei es mit der Volksbewegung in Katalonien oder sei es mit der wachsenden Zahl von Menschen, die auf der Straße ihren Unmut kundtun und die sich in Basisgruppen und Initiativen zusammenschließen. Statt dessen werden die Strafgesetze verschärft. Die PP treibt Spanien zurück in die Friedhofsruhe des Faschismus.

Möglich ist das nur, weil das NATO- und EU-Mitglied Spanien nicht befürchten muß, aus Brüssel oder Berlin kritisiert zu werden. Hätte in Kiew Wiktor Janukowitsch gleich am ersten Tag der Proteste auf dem Maidan Befehl gegeben, so gegen die dort versammelten Demonstranten vorzugehen, wie Mariano Rajoy in Madrid, wäre er heute vielleicht noch im Amt. Doch bislang fordert niemand Sanktionen gegen die spanischen Machthaber. Weder aus der Bundesregierung noch aus der EU-Kommission ist bislang der Ruf nach vorgezogenen Neuwahlen in Spanien lautgeworden. Einreiseverbote gegen Ministerpräsident Rajoy oder andere Repräsentanten des Regimes haben auch die Grünen noch nicht gefordert.

Der Unterschied zwischen Kiew und Madrid liegt auf der Hand: In der Ukraine wurde für die EU demonstriert, in Spanien richten sich die Proteste gegen sie. In der Ukraine steckte hinter dem Konflikt zwischen Regierung und Opposition die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Oligarchengruppen – auch wenn den meisten Demonstranten nicht bewußt war, daß sie sich in ihrem Protest gegen die reichen Bonzen vor den Karren anderer Multimillionäre spannen ließen. In Spanien hingegen kommen die Proteste tatsächlich von unten und fordern immer deutlicher einen radikalen Bruch, einen Systemwechsel. Zumindest die Absetzung des Königs und die Rückkehr zu einer Republik ist zunehmend ein gemeinsamer Nenner, wie unzählige Fahnen der zweiten Spanischen Republik am Sonnabend wieder deutlich gemacht haben.

Niemand braucht sich zu wundern, daß die herrschende Klasse mit zweierlei Maß mißt, wenn es um Demonstrationen und Proteste geht. Wer aber ihre Kriterien übernimmt, ist entweder dumm oder betreibt ganz bewußt deren Geschäft.

Erschienen am 24. März 2014 in der Tageszeitung junge Welt