Ziel Schweden

Kein Zugverkehr zwischen Hamburg und Kopenhagen, die dänische Polizei im Alarmzustand und Aufregung in Stockholm – Mehr als 3.000 Menschen haben in den vergangenen Tagen Norddeutschland und Dänemark erreicht, um nach Schweden zu gelangen. Das skandinavische Land ist seit Jahrzehnten ein wichtiges Ziel für Flüchtlinge aus aller Welt, auch wenn sich die Bedingungen dort in den letzten Jahren verschlechtert haben. Schon 2013 hatte die Erwerbslosenquote unter Migranten im Königreich fast dreimal höher gelegen als die bei dort geborenen Menschen. Im August wurden die rassistischen »Schwedendemokraten« in einer Umfrage erstmals stärkste Partei. Arbeitsministerin Ylva Johansson betonte in dieser Woche jedoch gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, das Problem sei nicht die Zahl der Flüchtlinge: »Es geht um Fehler bei der Integration.« Radio Schweden konkretisierte, dass die Migrationsbehörde Flüchtlinge oft in ärmere ländliche Gemeinden mit erhöhter Arbeitslosigkeit, Bevölkerungsschwund und leerstehendem Wohnraum schicke.

Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl nimmt Schweden europaweit die meisten Flüchtlinge auf. 8,4 Asylbewerber kamen hier 2014 auf 1.000 Einwohner, für die gesamte EU lag die Quote bei 1,2 und in Deutschland bei 2,1. Inzwischen haben sich in dem Königreich große internationale Gemeinden gebildet, die sich gegenseitig unterstützen können. So betreiben Flüchtlinge aus Kolumbien seit Jahren von Stockholm aus eine eigene Rundfunkstation, Radio Cafe Stereo, die über Internet in ihr Heimatland sendet und gegen die Menschenrechtsverletzungen dort Stellung bezieht. Unter den Schweden ist zudem auch weiterhin die Bereitschaft groß, Menschen eine Zuflucht zu bieten. Radio Schweden berichtete am Mittwoch, dass etwa bei der für die Vermittlung von privaten Flüchtlingsunterkünften zuständigen Abteilung der Stadtbezirksverwaltung Göteborg derzeit täglich 130 E-Mails mit Angeboten ankommen, vor allem zur Unterbringung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Dazu erreicht die Angestellten eine unüberschaubare Anzahl telefonischer Offerten. Der normale Durchschnitt liegt bei sechs am Tag.

In Dänemark präsentieren sich die großen Parteien dagegen gegenüber den Ankommenden feindselig, auch wenn die meisten von ihnen gar nicht in dem Transitland bleiben wollen. Am Mittwoch abend wurden die Übergänge zu Deutschland teilweise geschlossen, und auch am Donnerstag fuhren keine Fernzüge der Deutschen Bahn über die Grenze. Allerdings entschied die Polizei, Hunderten zuvor festgehaltenen Menschen die Weiterreise nach Schweden zu gestatten. Polizeichef Jens Henrik Højbjerg begründete das am Donnerstag bei einer Pressekonferenz in Kopenhagen damit, dass seine Grenzbeamten niemanden für mehr als drei Tage festhalten dürften, wenn die betreffende Person danach nicht abgeschoben werden könne. »In diesem Fall kommen die meisten Menschen aus Ländern, in denen Krieg herrscht. Unter ihnen befinden sich viele Frauen, Kinder und Ältere. In dieser Situation haben wir als Polizei eingeschätzt, dass es die richtige Entscheidung ist, sie gehen zu lassen.« Zugleich warnte er, dass es illegal sei, die Flüchtlinge bei der Weiterreise durch Transportmittel zu unterstützen. Mehrere Menschen wurden Medienberichten zufolge bereits unter dem Verdacht festgenommen, »Schlepper« zu sein. Freja Wedenborg von der linken dänischen Tageszeitung Arbejderen berichtete dagegen gegenüber jW, dass es sich um »viele, viele Dänen« handele, »die den Flüchtlingen mit Essen, Kleidung und Transportmöglichkeiten« helfen. Die Kommunistische Partei in Dänemark (KPiD) erinnerte in einer Erklärung daran, dass Kopenhagen unter anderem durch die Teilnahme am Bombenkrieg gegen Libyen direkt daran beteiligt war, die derzeitige Flüchtlingswelle zu provozieren.

Die ultrarechte Dänische Volkspartei wetterte gegen das »freie Geleit« für die Flüchtlinge. »Das klingt, als habe die Regierung aufgegeben, die Situation zu steuern«, sagte ihr »integrationspolitischer« Sprecher Martin Henriksen im dänischen Fernsehen. Auch die Sozialdemokratin Mette Frederiksen kritisierte, die Polizei habe sich entschlossen, nicht mehr die Gesetze zu befolgen: »Das ist inakzeptabel!«

In Schweden werden unterdessen erste Konsequenzen gezogen. Die Liberalen kündigten am Donnerstag einen Kurswechsel an und wollen nun einen Vorstoß der von Sozialdemokraten und Grünen gestellten Minderheitsregierung unterstützen. Durch diesen soll den Gemeinden das bisher bestehende Recht entzogen werden, die Aufnahme von Flüchtlingen zu verweigern. Der Chef der Liberalen, Jan Björklund, erklärte am Donnerstag: »Schweden fordert von allen EU-Ländern Verantwortung bei der Lastenverteilung ein, und ebenso sollten auch alle schwedischen Kommunen ihre Verantwortung übernehmen.«

Erschienen am 11. September 2015 in der Tageszeitung junge Welt