Zehntausende auf der Straße

Zehntausende Menschen haben sich am Freitag in Katalonien an neuen Massenprotesten gegen die Verurteilung führender Repräsentanten der Unabhängigkeitsbewegung beteiligt. An einem Generalstreik, zu dem mehrere Gewerkschaften aufgerufen hatten, beteiligten sich nach Angaben des Arbeitsministeriums im Handel 60 bis 80 Prozent der Beschäftigten, an den Universitäten rund 90 Prozent der Studierenden und Dozenten sowie im öffentlichen Dienst etwa 30 Prozent der Angestellten. Im Gesundheitswesen, in dem weitreichende Notdienste angeordnet worden waren, legten demnach 26,3 Prozent der Beschäftigten die Arbeit nieder, wie das öffentliche Fernsehen TV 3 auf seiner Homepage meldete. Der Sender hatte ebenso wie andere Kanäle sein reguläres Programm um Mitternacht unterbrochen und sendete ausschließlich Nachrichten über die Protestaktionen. Auch Catalunya Ràdio strahlte nur noch Musik aus, unterbrochen von stündlichen Informationen über den Ausstand. Mehrere Tageszeitungen waren am Freitag nicht erschienen.

Der Oberste Gerichtshof in Madrid hatte am Montag neun Politiker wegen »Aufruhrs« zu Haftstrafen von insgesamt fast 100 Jahren verurteilt. So soll der ehemalige stellvertretende Ministerpräsident Oriol Junqueras von der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC) für 13 Jahre hinter Gitter. Drei weitere Angeklagte erhielten Geldstrafen.

»Der Urteilsspruch ist ein Skandal«, empörte sich am Freitag Luís, der in der Stadt Vic in einem Immobiliengeschäft arbeitet und wie viele andere mit einem der wenigen fahrenden Züge nach Barcelona reiste: »Ich gehe heute für die Unabhängigkeit unseres Landes auf die Straße.« In der katalanischen Hauptstadt war für den Abend die zentrale Großdemonstration des Streiktages geplant.

Als »zynisch« empfand auch Rosa die Inhaftierung der Politiker. Sie arbeitet normalerweise in einem Supermarkt in Vic, der wie die meisten Geschäfte der Stadt an diesem Tag geschlossen blieb. Für sie gibt es keine andere Lösung als die Abtrennung Kataloniens von Spanien. Der Studentin Paula, die in einem schwarzen T-Shirt mit dem Logo der Antifaschistischen Aktion im Zug nach Barcelona saß, reicht das nicht. Sie setzt sich für eine sozialistische Katalanische Republik ein, auch wenn dies momentan nur ein Fernziel sei und man mit bürgerlichen Kräften zusammenarbeiten müsse.

Überall in Katalonien gingen am Freitag Zehntausende Menschen für die Unabhängigkeit und gegen die Repression auf die Straße. Allein in Girona beteiligten sich nach Polizeiangaben schon bis zum frühen Nachmittag rund 60.000 Menschen an Demonstrationen, in Barcelona waren ebenfalls den ganzen Tag über Tausende auf der Straße. Die Hafenarbeiter in Barcelona und Tarragona legten die Arbeit ebenso nieder wie die Arbeiter des Autofabrikanten SEAT in Martorell. Mehrere Autobahnen waren durch Demonstranten blockiert, am Flughafen El Prat von Barcelona fielen Dutzende Flüge aus.

Verfasst gemeinsam mit Stefan Natke

Erschienen am 19. Oktober 2019 in der Tageszeitung junge Welt