Zahlenwerk mit Fragezeichen

Nicht das Parlament, sondern eine Kundgebung seiner Anhänger war am Freitag die Bühne, auf der Venezuelas Präsident Nicolás Maduro in Caracas den Staatshaushalt für 2017 vorstellte. Zwei Tage zuvor hatte der Oberste Gerichtshof (TSJ) entschieden, dass die Regierung ihr Budget an der Nationalversammlung vorbei beschließen durfte.

Hintergrund der Entscheidung ist ein seit Monaten anhaltendes Tauziehen zwischen Legislative und Judikative. Nach den Parlamentswahlen im vergangenen Dezember hatte der TSJ aufgrund von Anfechtungen die Ergebnisse im Bundesstaat Amazonas »suspendiert« und angeordnet, dass die vier dort gewählten Abgeordneten – drei des Oppositionsbündnisses MUD (Tisch der demokratischen Einheit) und einer der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) – ihre Mandate vorläufig nicht ausüben dürfen. Während der linke Politiker das Urteil akzeptierte, nehmen die drei Regierungsgegner seit dem 28. Juli an den Sitzungen teil. Damit setzte sich das Parlamentspräsidium über die Urteile der obersten Richter hinweg. Diese reagierten darauf, indem sie mit diesem Datum alle Entscheidungen der Nationalversammlung für verfassungswidrig und damit ungültig erklärten. Schon zuvor hatte der TSJ wiederholt beschlossene Gesetze und Beschlüsse kassiert.

Als Konsequenz aus der Blockade der gesetzgebenden Gewalt ordneten die Richter in der vergangenen Woche an, dass der Haushaltsentwurf nicht dem Parlament, sondern dem TSJ vorgelegt werden müsse, um der Gewaltenteilung genüge zu tun und zugleich die Handlungsfähigkeit des Staates zu bewahren. Vizepräsident Aristóbulo Istúriz überreichte den Richtern deshalb am Freitag die vier in Leder gebundenen Bände mit dem fixierten Etat, während sich Maduro das Votum seiner Anhänger holte. Die Kundgebung wurde von den staatlichen Medien als Tagung des »Kongresses des Heimatlandes« präsentiert, einem im Januar von Maduro symbolisch ins Leben gerufenen »Gegenparlament«.

Die Regierung hob hervor, dass fast drei Viertel des Etats (73,6 Prozent) in die Sozialprogramme fließen sollen. Das ist, wie die oppositionelle Tageszeitung El Universal hervorhob, nahezu eine Verdoppelung des Anteils – im Haushalt für 2016 lagen die Ausgaben für die »Missionen« bei 40 Prozent. Nur noch ein geringer Teil des Etats soll demnach aus dem Erdölgeschäft stammen – Einnahmen aus dem Export des Rohstoffs werden nur mit 3,2 Prozent veranschlagt. Hinzu kommen 11,9 Prozent Abgaben und Dividenden aus den staatlichen Unternehmen, von denen vermutlich der Erdölkonzern PdVSA den Löwenanteil tragen wird. 83 Prozent sollen aus Steuereinnahmen in die Staatskassen fließen.

Tatsächlich sind diese Zahlen jedoch mit Vorsicht zu genießen. Insgesamt umfasst der Staatshaushalt fast 8,5 Billionen Bolívares. Das ist nicht nur eine Verfünffachung gegenüber dem Etat des Vorjahrs – Wenn man den offiziellen Wechselkurs zugrundelegt entspricht der Gesamtetat rund 775 Milliarden Euro und wäre damit mehr als doppelt so hoch wie die Summe, die Berlin für den Bundeshaushalt des kommenden Jahres vorsieht.

Venezuelas Regierung habe mit diesen Entwurf implizit anerkannt, dass die Inflation in den vergangenen zwölf Monaten bei rund 500 Prozent gelegen habe, bewertete der Ökonom Luis Oliveros das vorgelegte Zahlenwerk am Sonnabend im Gespräch mit dem privaten Fernsehsender Globovisión. Offiziell war der staatlich festgelegte Kurs des Bolívar nur einmal im Februar um rund ein Drittel abgewertet worden und liegt seither bei zehn Bolívares für einen US-Dollar. Parallel gibt es jedoch mit dem Simadi, dem »Marginalen Devisensystem«, einen zweiten Umtauschkurs. Dieser liegt aktuell bei 670 Bolívares für einen Dollar – ist für die Kunden allerdings mit bürokratischem Aufwand verbunden. Auf dem Schwarzmarkt kostet der Dollar sogar rund 1.100 Bolívares. Ein Ergebnis dieser Vielzahl unterschiedlicher Berechnungen ist Chaos im venezolanischen Wirtschaftsleben. Am Kiosk kostet etwa ein Exemplar der staatlichen Tageszeitung Correo del Orinoco aktuell 30 Bolívares, für eine Ausgabe des Oppositionsblattes El Nacional müssen dagegen 400 Bolívares hingelegt werden. Und so ist auch Interpretationssache, was der beschlossene Haushalt für Venezuela tatsächlich bedeutet.

Erschienen am 18. Oktober 2016 in der Tageszeitung junge Welt