junge Welt, 26. Mai 2012

Weltrichter USA

junge Welt, 26. Mai 2012Deutschland ist tatsächlich eine Demokratie. Nur die Meinungsfreiheit für Rechtsextremisten und Al-Qaida-Propagandisten wird leider eingeschränkt. So sei eine Veranstaltung der rechtsextremen Gruppe »Pro Deutschland« im Mai 2011 in Berlin-Kreuzberg durch Gegendemonstranten verhindert worden. Das geht aus dem jährlichen »Menschenrechtsbericht« der US-Administration hervor, den Außenministerin Hillary Clinton am Donnerstag (Ortszeit) vorstellte. Wieder einmal schwingt sich Washington darin zum Richter über die gesamte Welt auf, während die Flecken auf der eigenen Weste mit Schweigen übergangen werden. Das Folterlager Guantanamo ist kein Thema, die gewaltsamen Räumungen von »Occupy«-Camps kommen nicht vor, die seit 13 Jahren in US-Gefängnissen inhaftierten »Cuban Five« sind keiner Erwähnung wert. Dafür beklagt das Papier, daß in Kuba Menschen mit Gefängnisstrafen bedroht werden, »die versuchen, über die US-Marinebasis Guantanamo in die Vereinigten Staaten zu fliehen«. Steht das Eindringen auf militärisches Sperrgebiet in den USA selbst etwa nicht unter Strafe?

Das Label »demokratisch« wird von Washington selektiv vergeben. Frankreich etwa gilt als eine »konstitutionelle Mehrparteiendemokratie«, während Venezuela nur eine »konstitutionelle Mehrparteienrepublik« ist. Auch Monarchien wie Großbritannien verweigert der Bericht das Gütesiegel, während die Besatzungsmacht Israel oder Chile, dessen Regierung demokratische Proteste regelmäßig niederknüppeln läßt, sehr wohl als »Mehrparteiendemokratien« gefeiert werden.

Vor allem im Süden des Kontinents wird die erneute Veröffentlichung des Berichts als arroganter Affront der Supermacht im Norden wahrgenommen. »Die US-Regierung verleugnet den eigenen Rekord an Menschenrechtsverletzungen, den sie im eigenen Land und weltweit hält«, heißt es in einer offiziellen Erklärung des kubanischen Außenministeriums, die das Internetportal Cubadebate am Freitag veröffentlichte. »Die Lügen und Verzerrungen in diesem Dokument dienen nur dem hoffnungslosen Versuch der nordamerikanischen Regierung, ihre schreckliche Blockadepolitik gegen Kuba zu rechtfertigen«, schreiben die Diplomaten in Havanna weiter.

Boliviens Präsident Evo Morales kritisierte die USA als »Mülleimer für Verbrecher aus ganz Lateinamerika«. Speziell in Miami werde zahlreiche Personen Unterschlupf gewährt, die in ihren Heimatländern unter anderem wegen Korruption, Terrorismus oder der Verwicklung in Staatsstreiche gesucht werden oder verurteilt wurden.

Als »skandalös« verurteilte auch die venezolanische Regierung in einem Statement den Versuch der USA, sich zu einem »globalen Richter« aufzuschwingen, während Washington zugleich die meisten internationalen Menschenrechtsinstrumente und die Verfahren zur Überwachung ihrer Einhaltung nicht akzeptiert. Venezuela habe sich demgegenüber zuletzt im März der regelmäßigen Überprüfung durch den UN-Menschenrechtsrat unterworfen, der die entsprechende Politik der bolivarischen Regierung anerkannt habe.

Vom Auswärtigen Amt in Berlin war zunächst keine Stellungnahme zu erhalten.

Erschienen  am 26. Mai 2012 in der Tageszeitung junge Welt