Wahl trotz Fluten

Der venezolanische Bundesstaat Amazonas wird künftig von der Opposition gegen die Zentralregierung des Präsidenten Hugo Chávez regiert, doch der Gouverneur bleibt derselbe. Liborio Guarulla regiert die dünnbesiedelte Region im Süden des Landes bereits seit dem Jahr 2001, als dort die Regionalwahlen vom Vorjahr aufgrund einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs wiederholt werden mußten. Seither wird in Amazonas regelmäßig zu anderen Terminen als in den anderen Teilen des Landes gewählt. Guarulla gehört der Mitte-Links-Partei »Heimatland für alle« (PPT) an, die bis Anfang diesen Jahres Bestandteil der Regierungskoalition um die von Chávez gegründete Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) gewesen war. 2001 und 2005 mit Unterstützung der Chavistas gewählt, kandidierte er am Sonntag nach dem Bruch seiner Partei mit dem Regierungslager jedoch als Vertreter der PPT und des Oppositionsbündnisses »Tisch der Demokratischen Einheit« (MUD) und konnte sich mit 51 Prozent knapp gegen Edgildo Palau von der PSUV durchsetzen.

Ebenfalls neu gewählt wurde am Sonntag auch im Bundesstaat Guárico, nachdem der bisherige Gouverneur des Staates, der frühere Informationsminister und Chávez-Vertraute Willian Lara, am 10. September bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Sein Nachfolger wird Luis Enrique Gallardo von der PSUV, der sich mit über 77 Prozent der Stimmen klar gegen seinen oppositionellen Kontrahenten Carlos Prosperi behaupten konnte.

Maracaibo bleibt rechts

Mit besonderer Aufmerksamkeit wurde in ganz Venezuela auch das Rennen um das Bürgermeisteramt von Maracaibo, der Hauptstadt des rohstoffreichen Bundesstaates Zulia im Westen des Landes, verfolgt. Hier war die Neuwahl nötig geworden, weil sich der bisherige Amtsinhaber Manuel Rosales, der bei der Präsidentschaftswahl 2006 erfolglos gegen Chávez angetreten war, sich vor einem Ermittlungsverfahren wegen Unterschlagung abgesetzt und in Peru politisches Asyl beantragt hatte. Um seine Nachfolge bewarb sich als Kandidatin des MUD seine Ehefrau Eveling Trejo de Rosales. Die PSUV nominierte Gian Carlo Di Martino, der Maracaibo schon zwischen 2000 und 2008 regiert hatte, danach aber bei der Wahl zum Gouverneur Zulias der Opposition unterlegen war. Auch diesmal blieb ihm der Erfolg verwehrt, Trejo setzte sich mit gut 58 Prozent durch und steht künftig an der Spitze der zweitgrößten Stadt Venezuelas.

Von den übrigen zehn Kommunalmandaten, um die am Sonntag gestritten wurde, konnte die PSUV sieben gewinnen. Die Wahlbeteiligung wurde bislang nicht offiziell mitgeteilt, Angaben der Agentur Prensa Latina zufolge soll sie jedoch zumindest teilweise sehr niedrig gewesen sein. Das könnte auch an den schweren Überschwemmungen gelegen haben, die die Endphase des Wahlkampfs überschatteten. In weiten Teilen des Landes wurde der Notstand ausgerufen, 34 Menschen kamen Behördenangaben zufolge bislang ums Leben.

Am Sonntag besuchte Staatspräsident Hugo Chávez den schwer von den Fluten betroffenen Urlaubsort Higuerote und sicherte den Betroffenen Unterstützung zu. Er beauftragte die Streitkräfte, derzeit leerstehende Hotels und Pensionen in den reichen Villenvierteln der Stadt zu inspizieren und dort die Opfer der Fluten unterzubringen. Dies sei eine »vorübergehende Leihgabe« der Reichen, so Chávez. »Was hier geschehen ist, ist nicht nur ein Ergebnis der Niederschläge, sondern auch des Kapitalismus und der ungleichen Verteilung des Wohnraums«, kritisierte er, sicherte jedoch zugleich zu, die touristischen Einrichtungen ihren Besitzern zurückzugeben, sobald die Katastrophe überwunden sei.

Kritik am Kapitalismus

Bereits zuvor hatte der Präsident in seiner wöchentlichen Zeitungskolumne »Las Líneas de Chávez« indirekt die »mächtigsten Ökonomien der Welt« für die Katastrophe verantwortlich gemacht, denn diese bestünden darauf, »ein destruktives Lebensmodell voranzutreiben«, seien anschließend jedoch nicht in der Lage, die Verantwortung für die Folgen zu tragen. »Niemand entgeht den Reaktionen der Natur. Die Arroganz der Herren der Welt verletzt systematisch die ökologischen Grenzen, ohne in irgendeiner Weise über die Menschheit und den Planeten nachzudenken.« Zugleich erinnerte Chávez auch daran, daß die derzeitige Niederschlagsmenge bereits doppelt so hoch sei wie während der Unwetterkatastrophe 1999, wenige Monate nach Chávez’ Amtsantritt, als bei der »Tragödie von Vargas« durch Erdrutsche Zehntausende Menschen ums Leben gekommen waren. »Mit jedem Fluß, der über die Ufer tritt, mit jedem Berg der nachgibt und abstürzt, mit jeder mitgerissenen Hütte, die viele Venezolanerinnen und Venezolaner auf der Straße zurückläßt, wächst der Schmerz eines leidenden Volkes, das nie etwas anderes getan hat, als Widerstand zu leisten. Heute jedoch ist das Volk nicht allein. Wir werden nicht ruhen, bis die vielen materiellen Schäden, vielen Schmerzen und Leiden überwunden sind. Ich sage dies mit einer Hoffnung, die begonnen hat, Wirklichkeit zu werden. Der Tag wird kommen, an dem der soziale Albtraum, den wir geerbt haben, dem Vergessen anheim fällt«, unterstrich Chávez.

Erschienen am 7. Dezember 2010 in der Tageszeitung junge Welt und am 8. Dezember 2010 in der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek