Vier Kandidaten, 17 Parteien

Alle Wahlen, Referenden und andere Formen von Abstimmungen liegen in Venezuela in der Verantwortung des Nationalen Wahlrats (CNE). Dieser gilt nach der Verfassung des südamerikanischen Landes als eigenständige Staatsgewalt, ist also nicht den Anweisungen von Regierung und Parlament unterworfen. Der CNE betreut nicht nur Entscheidungen über die Zusammensetzung von Parlamenten oder über den Staatschef, sondern führt auch organisationsinterne Wahlen zum Beispiel in Gewerkschaften und Berufsverbänden durch. Doch im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen natürlich Wahlen von überregionaler politischer Bedeutung.

Im vergangenen Jahr wurden die Verfassunggebende Versammlung, die Gouverneure in den Bundesstaaten sowie die Kommunalparlamente gewählt. An diesem Sonntag sind die Venezolanerinnen und Venezolaner nun aufgerufen, über ihren Präsidenten sowie über die Abgeordneten der Regionalparlamente zu entscheiden.

Abstimmungen finden in dem südamerikanischen Land grundsätzlich elektronisch statt. Dazu stehen in den Wahlkabinen entsprechende Geräte, die von ihrer klobigen Form her ein wenig an die ersten Personalcomputer der 1980er Jahre erinnern. Auf dem Bildschirm wird der »Stimmzettel« mit allen Parteien und Kandidaten angezeigt. Der Wähler tippt das Feld an, für das er sich entscheiden will. Daraufhin erscheint seine Auswahl vergrößert, und es wird eine Bestätigung verlangt. Sobald diese erfolgt ist, wird die Stimme gespeichert. Zudem wird auf Papier ein Beleg ausgedruckt, auf dem die Wahl ebenfalls festgehalten ist. So kann noch einmal kontrolliert werden, ob der Ausdruck mit der getroffenen Entscheidung übereinstimmt. Dann wird der Zettel in eine Urne geworfen.

Die Voten werden elektronisch in das zentrale Rechenzentrum nach Caracas übermittelt. Sobald alle Wahllokale geschlossen sind, werden sie dort ausgewertet. Auf diese Weise steht schnell ein vorläufiges Ergebnis fest – wochenlange Hängepartien und Manipulationsmöglichkeiten, wie es sie in Honduras gegeben hat, sind somit nahezu ausgeschlossen. Zudem wird nach Abschluss der Wahl in zufällig ausgesuchten Abstimmungslokalen überprüft, ob die Ergebnisse der in die Urne geworfenen Kontrollzettel mit den elektronisch übermittelten Daten übereinstimmen. Von Stichproben kann man dabei schon nicht mehr sprechen, denn eine solche Überprüfung erfolgt standardmäßig in mehr als der Hälfte aller Wahllokale. Bei den vergangenen Wahlen wurden bei diesen Kontrollen praktisch keine Abweichungen festgestellt. Zudem sind bei allen Schritten vor, während und nach der Wahl – unter anderem bei den Funktionstests der Maschinen – und auch in allen Abstimmungslokalen Zeugen der beteiligten Parteien anwesend, die die Ergebnisse jeweils mit ihrer Unterschrift bestätigen müssen.

Bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag treten vier Kandidaten an – aber 17 Parteien. Eine Besonderheit des venezolanischen Wahlsystems ist nämlich, dass mehrere Parteien und Wählervereinigungen ein und denselben Kandidaten nominieren können, aber trotzdem eigenständig erscheinen. So zählt am Sonntag nicht nur eine Stimme für die Vereinte Sozialistische Partei als Votum für Amtsinhaber Nicolás Maduro, sondern auch eine solche für die PPT, Podemos oder eine andere Partei, die sich seiner Kandidatur angeschlossen hat. Die Kommunisten werben offen damit, durch eine Stimme für sie zwar Maduro zu unterstützen, zugleich aber Unzufriedenheit mit dessen Regierungsführung signalisieren zu können. Auf der anderen Seite zählen sowohl Stimmen für die christsoziale COPEI als auch für die sozialdemokratische MAS für den oppositionellen Bewerber Henri Falcón.

Für Irritationen sorgen kann, dass noch ein fünfter Bewerber auf den Bildschirmen erscheint. Luis Ratti, der als Einzelbewerber ins Rennen gegangen war, hat seine Kandidatur am 8. Mai mangels Erfolgsaussichten zurückgezogen und ruft nun zur Wahl von Falcón auf, der als wichtigster Konkurrent Maduros gilt. Da er diese Entscheidung zu kurzfristig getroffen hat, wird sein Bild trotzdem auf den Wahlscheinen auftauchen. Wer sich für ihn entscheidet, wählt automatisch Falcón. Eine solcher Schwenk in letzter Minute ist in Venezuela nicht ungewöhnlich, sondern eher die Regel. Hintergrund sind oft Deals um Posten und Einfluss oder andere taktische Überlegungen.

Erschienen am 19. Mai 2018 in der Tageszeitung junge Welt