Viel oder wenig?

Bei den seit sechs Monaten laufenden Friedensverhandlungen zwischen den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) und der Regierung von Staatschef Juan Manuel Santos ist es am Sonntag in Havanna offenbar zu einem Durchbruch gekommen. Wie die Delegationen beider Seiten in einem gemeinsamen Kommuniqué mitteilten, hat man sich auf ein erstes Abkommen für eine umfassende Landreform geeinigt. Diese Frage galt im Vorfeld als die entscheidende, denn die ungerechte Verteilung von Grund und Boden in Kolumbien und die Armut der Landbevölkerung gelten als Hauptursache für das Entstehen der FARC-Guerilla Mitte der 60er Jahre.

 

Die Delegationen versprechen nicht weniger als den »Beginn radikaler Veränderungen der ländlichen und landwirtschaftlichen Realität Kolumbiens zu Gleichheit und Demokratie«. So sollen die Armut bekämpft und die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung sichergestellt werden. Zudem soll es Ländereien für landlose Bauern geben, die durch den Krieg aus ihrer Heimat vertriebenen Menschen sollen zurückkehren können. Konkreter wird das gemeinsame Kommuniqué jedoch kaum. Details darüber, wie die Umsetzung vonstatten gehen soll, werden fast keine mitgeteilt. Als erster Schritt wird lediglich angekündigt, daß die Regierung »unter Berücksichtigung der verfassungsmäßigen und gesetzlichen Bestimmungen« Schritt für Schritt die Besitzverhältnisse der bäuerlich genutzten Gebiete klären will.

Auffällig ist zudem, daß das Wort »Großgrundbesitz« im gemeinsamen Kommuniqué von FARC und Regierung nicht vorkommt. Dabei wird eine Besserung der Lage für die landlosen Bauern kaum möglich sein, ohne die Interessen der Latifundistas zu verletzen. So stellte das UN-Entwicklungsprogramm UNDP in seinem Jahresbericht 2011 fest, daß Kolumbien »eines der Länder in Lateinamerika und weltweit mit der größten Ungleichheit im Landeigentum« ist. Neben historischen und anderen »traditionellen« Gründen werden im Bericht die Logik der Gebietskontrolle durch die bewaffneten Kräfte sowie die Ausbreitung der Drogenkartelle, die immer größere Territorien unter ihre Kontrolle bringen, als Ursachen für diese Zuspitzung genannt.

Bereits im Januar zeigte sich Marisol Gómez Giraldo, Herausgeberin der kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo, in ihrem Blatt unsicher, ob die damals bekanntgewordenen Fortschritte bei den Gesprächen in Havanna nun »viel« oder »wenig« seien, und schrieb: »Viel, wenn man berücksichtigt, daß die FARC einen historischen Sprung vollzogen haben und sich als offener Gesprächspartner zeigen, wenn nicht mehr von der Beseitigung jeden sondern nur noch des unproduktiven Großgrundbesitzes und nicht mehr von einem Verbot, sondern nur noch von einer Beschränkung ausländischen Besitzes gesprochen wird. Wenig, wenn man bedenkt, daß noch große Differenzen mit der Regierung darüber bestehen, wie die Probleme des Zugangs und der Nutzung der Ländereien zu lösen sind.«

Bei einer eigenen Pressekonferenz wiesen die Vertreter der Guerilla am Sonntag in Havanna darauf hin, daß ihre Seite in der nun erreichten Vereinbarung einige Vorbehalte zu Protokoll gegeben habe, »die notwendigerweise vor der Konkretisierung eines endgültigen Abkommens noch einmal aufgenommen werden müssen«. Trotzdem sei man in der kubanischen Hauptstadt dabei, dem Volk eine Möglichkeit zum Handeln und zur Verteidigung seiner Rechte zu eröffnen. »Aber es beunruhigt, daß, während die Mehrheit Versöhnung fordert und ihrem Wunsch nach Gerechtigkeit Ausdruck verleiht, das Land weiter die Unbarmherzigkeit ökonomischer Politik und Maßnahmen erleiden muß, die unser Territorium den transnationalen Konzernen zum Fraß vorwerfen und die Ungleichheit vertiefen, sowie weiter Landsleute beider Seiten in einem seit einem halben Jahrhundert andauernden Krieg fallen, der dringend einen politischen Ausweg braucht.« Einen Waffenstillstand, wie ihn die FARC bereits zu Beginn der Gespräche gefordert hatten, lehnt die Regierung jedoch weiter ab.

Trotz aller Vorbehalte wurde die Nachricht von dem ersten Abkommen in Bogotá und anderen Hauptstädten Lateinamerikas erfreut aufgenommen. Jaime Caicedo Turriago, Generalsekretär der Kolumbianischen KP, wertete den Durchbruch als Beweis dafür, daß eine politische Lösung des Konflikts tatsächlich möglich sei. Das Linksbündnis Marcha Patriótica erinnerte daran, daß die Verhandlungen zuletzt durch ein Ultimatum von Kolumbiens Innenminister Fernando Carrillo sowie durch die Abschaltung des Internetblogs der FARC-Delegation erschwert worden seien. Zudem belege die Tatsache, daß die beiden nationalen Fernsehkanäle RCN und Caracol die Pressekonferenz der FARC in Havanna nicht übertragen haben, daß auch eine Demokratisierung der Medien notwendig sei.

In Caracas feierte die venezolanische Regierung das Abkommen in einem Kommuniqué des Außenministeriums als »großen Fortschritt« für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon würdigte in New York ebenfalls den »wichtigen Erfolg« bei den Verhandlungen in Havanna.

Erschienen am 28. Mai 2013 in der Tageszeitung junge Welt