Venezuelas neues Gesicht

Mit unbewegter Miene verlas der Präsident des Nationalen Wahlrates (CNE), Rafael Parra Pérez, am Abend des 6. Dezember 1998 die Ergebnisse der Wahl. Ein Newcomer hatte das politische System Venezuelas gesprengt: Hugo Chávez Frías wurde mit mehr als 56 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten des südamerikanischen Landes gewählt. Es war die Abwahl eines politischen Systems, in dem sich 40 Jahre lang Sozialdemokraten (Acción Democrática, AD) und Christsoziale (COPEI) an der Regierung abgewechselt und die Macht geteilt hatten. Während die Spitzenpolitiker dieser beiden Parteien vom »Saudi-Venezuela« träumten, dessen Erdölreichtum es in die »Erste Welt« katapultieren sollte, versank die einfache Bevölkerung des südamerikanischen Landes im Elend. Schätzungen sprechen davon, daß bis zu 80 Prozent der Menschen in Armut lebten, die An­alphabetenrate lag bei über zehn Prozent. Hunderttausende hatten keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung oder zu mehr als der nötigsten Schulbildung.

 

Ihre Hoffnung war der 44jährige Oberstleutnant Hugo Chávez, der am 4. Februar 1992 eine Rebellion gegen den damaligen sozialdemokratischen Staatschef Carlos Andrés Pérez angeführt hatte. Dieser war verantwortlich für die blutige Niederschlagung von Massenprotesten drei Jahre zuvor. Zwar scheiterte der Aufstand und die »Putschisten« landeten im Gefängnis, doch unter den breiten Massen wurde Chávez zum Helden. Die Unterstützung war so groß, daß der »Comandante« und seine Mitstreiter 1994 vom neuen Präsidenten Rafael Caldera begnadigt wurden. Dieser hatte sich selbst jedoch wohl kaum träumen lassen, daß er knapp fünf Jahre später gezwungen sein würde, dem Freigelassenen die Präsidentenschärpe zu übergeben.

Vom Militär zum Politiker

Bedingung für die Begnadigung war, daß Chávez aus dem Militär ausschied und sich ins zivile Leben zurückzog. Dieser akzeptierte das widerwillig, doch er nutzte die Chance. Zusammen mit seinen Gefährten wandelte er seine illegale »Revolutionäre Bolivarische Bewegung« (MBR-200) in die legale Wahlpartei »Bewegung Fünfte Republik« (MVR) um – im venezolanischen Dialekt ausgesprochen klingen beide Kürzel nahezu gleich. Die neue Partei wurde von den Behörden verfolgt und behindert, doch Chávez gewann die Massen. Er hatte das Talent, Tausende in seinen Bann zu ziehen, und die kommerziellen Massenmedien fanden zunächst Gefallen an diesem Mann, der ihnen spektakuläre Bilder und hohe Einschaltquoten liefern konnte. Hugo Chávez war das neue Gesicht Venezuelas.

Dabei hatte es zunächst so ausgesehen, als ob Irene Sáez das Rennen machen könnte. Die blonde Schönheit war 1981 zur »Miss Universum« gewählt worden – und da solche Misswahlen in Venezuela unglaubliche Bedeutung haben, gehörte sie daraufhin zu den populärsten Persönlichkeiten des Landes. Monatelang führte sie mit ihrer gerade erst gegründeten und ganz auf sie zugeschnittenen Partei »IRENE« (Integration und Erneuerung Neue Hoffnung) die Umfragen an. Doch dann machte sie den für sie verhängnisvollen Fehler, die Unterstützung der COPEI zu akzeptieren. Es war der »Todeskuß«, denn kaum etwas war zu diesem Zeitpunkt bei den Venezolanern mehr verhaßt als die beiden Traditionsparteien AD und COPEI. Sáez’ Chancen brachen in dem selben Maß ein, wie die Umfragewerte von Hugo Chávez nach oben schnellten. Am Wahltag selbst stimmten schließlich nur noch 2,9 Prozent der Wähler für die einstige Favoritin.

Als sich im Herbst 1998 der wahrscheinliche Wahlsieg des Comandante abzuzeichnen begann, gerieten AD und COPEI in Panik. Letztere ließ die ruinierte Sáez fallen wie eine heiße Kartoffel und rief vier Tage vor der Wahl dazu auf, für Henrique Salas Römer zu stimmen, dessen konservative Partei »Proyecto Venezuela« als einzige noch Aussicht hatte, Chávez besiegen zu können. Die Sozialdemokraten der AD vollzogen ein ähnliches Manöver. Sie hatten ihren Generalsekretär Luis Alfaro Ucero zum Kandidaten nominiert, doch dieser weigerte sich, seine Kandidatur zurückzuziehen. Daraufhin schloß ihn die AD aus ihrem Vorstand aus und schwenkte ebenfalls zu Salas Römer um. Es brachte nichts, er landete abgeschlagen bei 40 Prozent.

Neubegründung des Landes

Während die entthronten Altparteien ihre Wunden leckten, begannen Medienmogule und Unternehmer nur Stunden nach der Wahl mit dem alten Spiel, den »Neuen« einzukaufen. Chávez selbst berichtete davon 2003 am Rande des Weltsozialforums im brasilianischen Porto Alegre: »Eines Abends, bei einem der Abendessen des Dezember 1998, kam ein Vertreter dieser (mächtigen) Kreise auf mich zu und sagte mir: ›Präsident, wir haben uns zusammengesetzt, und weil wir Ihnen helfen wollen, bringen wir Ihnen diese Liste. Das sind unsere Kandidaten für die Ministerämter.‹ Ich schaute auf die Liste und als erstes sah ich den Finanzminister, dann den Außenhandelsminister; weiter unten andere (…) Ich habe mir diesen Zettel natürlich gut aufgehoben und habe niemanden von denen, die sie mir vorgeschlagen hatten, ernannt.«

Die Hoffnungen der Oberschicht hatte Chávez allerdings selbst genährt, denn in den Monaten vor der Wahl präsentierte er sich als Anhänger eines »dritten Weges« und nannte US-Präsident William Clinton sowie den britischen Premier Anthony Blair als Vorbilder. Enteignungen könne er ausschließen. Vielmehr wolle er den Unternehmern neue Möglichkeiten eröffnen. In einem Punkt aber war er unerbittlich: Das Land müsse durch eine verfassunggebende Versammlung neu begründet werden. Deshalb legte er am 2. Februar 1999 den Amtseid auf die »dem Untergang geweihte Verfassung« ab. Mit versteinerter Miene stand der greise Caldera neben ihm, während Zehntausende auf den Straßen ihren Comandante feierten.

Mit dem Wahlsieg vom 6. Dezember 1998 begann die Bolivarische Revolution. Dieser Prozeß hat nicht nur Venezuela, sondern Lateinamerika verändert. Mit dem Namen Hugo Chávez verbunden sind umfangreiche Sozialprogramme wie das Alphabetisierungsprogramm »Misión Robinson« oder der mit Hilfe Tausender kubanischer Ärzte erfolgte Aufbau eines Netzwerks kostenloser Gesundheitsversorgung, »Barrio Adentro«. Undenkbar ohne den bolivarischen Prozeß Venezuelas wären die Gründung der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) und die der Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft (CELAC), vor allem aber die der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA), deren Grundstein Chávez und Fidel Castro im Dezember 2004 legten. Hugo Chávez hat Venezuela auf die politische Weltkarte gesetzt. Am 5. März 2013 ist er verstorben – doch für seine Landsleute und viele Menschen überall auf der Welt ist er schon ebenso unsterblich wie etwa Che Guevara.

Ob die von ihm angestoßene Revolution weitergeht und tatsächlich zu einem, wie von Chávez ab 2005 proklamiert, sozialistischen Venezuela wird, hängt unter anderem von den Regionalwahlen ab, die an diesem Wochenende im ganzen Land stattfinden. Sein Nachfolger Nicolás Maduro hat ein schweres Erbe übernommen.

Erschienen am 7. Dezember 2013 in der Tageszeitung junge Welt