Venezuela vor einer neuen Weichenstellung

Am 2. Dezember werden die Menschen in Venezuela über insgesamt 68 Änderungen ihrer 1999 verabschiedeten Verfassung entscheiden. Zur Abstimmung stehen in zwei Blöcken die Änderungen, die von Präsident Hugo Chávez am 15. August 2007 vorgeschlagen wurden, sowie weitere Veränderungen, die während der breiten Diskussion dieser Vorschläge im Parlament und in unzähligen Versammlungen mit den betroffenen Gruppen eingebracht und diskutiert wurden.

 

Zwar umfassen die Änderungen ein weites Feld von Bestimmungen, von denen einige breite Unterstützung genießen, während andere auch im bolivarischen Lager durchaus umstritten sind. Letztlich geht es aber um den künftigen Kurs des revolutionären Prozess, der am 6. Dezember 1998 mit der erstmaligen Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten Venezuelas eingeleitet wurde. Soll dieser Prozess im Rahmen einer – wenn auch fortschrittlichen – bürgerlichen Verfassung bleiben, wie sie 1999 verabschiedet wurde, oder soll sie den entscheidenden Schritt hin zum Aufbau des Sozialismus tun? Kein Wunder also, dass die Revolutionäre im bolivarischen Lager, darunter die Kommunistische Partei, zum "doppelten Ja" aufrufen.

Die Abstimmung in Venezuela könnte welthistorische Bedeutung erlangen, denn wenn das "Ja" siegt, dann wäre es das erste Mal seit Jahrzehnten, dass ein Land in seiner Verfassung das sozialistische Ziel neu festschreibt. Das letzte Mal dürfte dies 1975 gewesen sein, als in Vietnam der von einem US-Marionettenregime regierte Süden befreit wurde und Portugal nach der Nelkenrevolution zunächst einen antikapitalistischen Kurs beschritt, der sich auch in der portugiesischen Verfassung widerspiegelte.

Die Diskussion in Venezuela wird aber weniger von dieser grundsätzlichen Frage geprägt – die Entscheidung für den Sozialismus wurde für viele bereits mit der überwältigenden Wiederwahl des Präsidenten Chávez im vergangenen Jahr getroffen -, sondern vielmehr von den konkreten Veränderungen, die mit der Verfassungsreform vorgenommen werden.

So wird durch zahlreiche Regelungen die Volksmacht gegenüber der traditionellen repräsentativen Demokratie gestärkt. Sie wird sogar als übergeordnete Gewalt gegenüber der traditionellen – und weiterhin bestehenden – Gewaltenteilung definiert um deutlich zu machen, dass die Entscheidungen der von unten nach oben organisierten Strukturen der Selbstregierung des Volkes für die traditionellen Strukturen – Bürgermeister, Gouverneure, Präsident – bindend sind. Zugleich werden die Gemeinden an der Basis mit der Ausübung der sozialen Kontrolle der öffentlichen Verwaltung betraut. In diesem Zusammenhang wird auch eine Änderung der bisherigen Struktur des venezolanischen Staatsapparates vorgeschlagen, wodurch auf lokaler und regionaler Basis die Kompetenzen gestärkt werden.

Konkrete Änderungen betreffen auch die Lebenswirklichkeit der Menschen. Die wöchentliche Arbeitszeit wird von bislang 40 auf 36 Stunden beschränkt, selbstständig arbeitende Menschen werden über besondere Fonds in die Sozialversicherung einbezogen, die sozialen Missionen erhalten Verfassungsrang als neue Form einer alternativen Verwaltung gegen die traditionelle Bürokratie.

Die erst vor wenigen Jahren eingerichtete Nationale Reserve wird als Volksmiliz nun auch offiziell Bestandteil der Bolivarischen Streitkräfte. Bereits jetzt hatte die Reserve eher an frühere Betriebskampfgruppen erinnert, insbesondere wenn sie unter roten Fahnen und nach der Betriebszugehörigkeit ihrer Angehörigen an Militärparaden teilnahmen.

Für besonderen Wirbel sorgte auch in der deutschen Presse die Abschaffung des Verbots, dass der Präsident (oder die Präsidentin) nach zwei Amtszeiten erneut kandidieren kann. Für die bürgerliche Presse in Europa wurde daraus geschwind eine "ewige Wiederwahl" des Präsidenten, dessen Amtszeit künftig nicht mehr beschränkt sein solle. Tatsächlich soll aber die Zeit zwischen zwei Präsidentschaftswahlen von bislang fünf auf sechs Jahre verlängert werden, wobei weiterhin die Möglichkeit bestehen bleibt, den Präsidenten – und jeden anderen gewählten Funktionär – nach der Hälfte seiner Amtszeit abzuwählen. Die für die Einberufung eines solchen Referendums notwendige Zahl von Unterschriften soll allerdings von bislang 20 auf 30 Prozent der Wahlberechtigten erhöht werden.

Hintergrund dieser zunächst auch im bolivarischen Lager umstrittenen Regelung ist, dass die politische Selbstorganisierung der Bevölkerung gestärkt werden soll. Die erhöhten Quoren werden dann eben erst erreicht werden können, wenn die entsprechende Diskussion weite Teile der Bevölkerung erfasst. Trotz der erhöhten Schwelle bleibt die Möglichkeit der vorzeitigen Absetzung der "Repräsentanten" eine Möglichkeit, die man in den "Vorzeige-Demokratien" wie Deutschland vergeblich sucht. Um Volksabstimmungen über Gesetze durchzuführen, ist übrigens eine geringere Zahl von Unterschriften notwendig.

Heftige Debatten gab es auch um Änderungen bei der Verhängung des Ausnahmezustandes. In der bislang gültigen Version der Verfassung ist ein Katalog von Grundrechten vorgesehen, die auch im Falle eines Ausnahmezustandes bei Krieg, schweren Naturkatastrophen oder Unruhen nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen. Die Parlamentskommission, in der die Verfassungsänderungen zunächst beraten worden waren, hatte mehrheitlich vorgeschlagen, aus diesem Katalog das Recht auf Information und das Recht auf ein angemessenes (faires) Verfahren zu streichen. Während von vielen akzeptiert wurde, dass das "Recht auf Information" in Ausnahmesituationen – als Beispiel wurde immer wieder der Putsch vom April 2002 herangezogen – eine Illusion sei, gelang es, den Angriff auf die juristischen Grundrechte abzuwehren. Die diesbezüglichen Rechte werden sogar ausgeweitet, indem sie konkretisiert wurden. So werden nun als unantastbare Grundrechte das Recht auf Leben, das Folterverbot, das Verbot der Isolationshaft, das Recht auf Verteidigung, auf persönliche Integrität, das Verbot einer Verurteilung von mehr als 30 Jahren Haft sowie das Verbot des "Verschwindenlassens" festgelegt.

Mit einer Großdemonstration haben Hunderttausende von Menschen am vergangenen Sonntag ihre Unterstützung für die Verfassungsreform demonstriert und damit den "Wahlkampf" bis zur Abstimmung am 2. Dezember eröffnet. Die Kontrolle der Fairness dieses Wahlkampfes obliegt dem Nationalen Wahlrat (CNE), der auch die Abstimmung durchführt. CNE-Präsidentin Tibisay Lucena kündigte an, dass ihre Behörde die Finanzierung der Fernsehspots und der Zeitungsanzeigen von Befürwortern und Gegnern der Verfassungsreform übernommen habe, um dadurch gleiche Möglichkeiten in den Medien zu gewährleisten. Lucena kündigte auch an, dass wieder internationale Wahlbeobachter die Abstimmung überprüfen werden.

Erschienen in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit vom 9. November 2007