Venezuela: Verfassungsreform abgelehnt

Mit äußerst knapper Mehrheit haben die Wählerinnen und Wähler in Venezuela die vom Präsidenten Hugo Chávez und der Nationalversammlung vorgeschlagene Verfassungsreform abgelehnt.

 

 

Der Vorschlag von insgesamt 69 zur Veränderung vorgesehenen Verfassungsartikeln war in zwei Blöcke aufgeteilt worden. Block A enthielt vor allem die 33 von Präsident Chávez am 15. August vorgeschlagenen Verfassungsänderungen, Block B diejenigen Änderungen, die während der Debatten des Parlaments und in den öffentlichen Versammlungen hinzugefügt worden waren. Während der Block B nur von 48,44 Prozent der Abstimmenden unterstützt wurde, war die Unterstützung für den direkt mit Chávez verbundenen Block A mit 49,29 Prozent etwas höher.

Das Paket der Verfassungsänderungen, das nun durch das venezolanische Volk abgelehnt wurde, hatte ein sehr breites Spektrum von Regelungen umfaßt. So sollten der Begriff ‚sozialistisch’ in verschiedenen Zusammenhängen festgeschrieben werden, das Verbot einer erneuten Kandidatur des Präsidenten aufgehoben und die Basisstrukturen gestärkt und mit Entscheidungskompetenzen ausgestattet werden. Das Wahlalter sollte von 18 auf 16 Jahre, die tägliche Arbeitszeit von acht auf sechs Stunden gesenkt werden. Die zahlreichen Beschäftigten des informellen Sektors der venezolanischen Wirtschaft – in dem knapp die Hälfte der arbeitenden Menschen tätig ist – sollte in den Genuß von Leistungen aus der Sozialversicherung kommen, ohne selbst jemals Beiträge eingezahlt zu haben. Die Hochschulen sollten demokratisiert werden, ohne ihre Autonomie zu verlieren. Zugleich sollten die Kompetenzen der Regierung gestärkt werden: die Nationalbank sollte ihre Autonomie verlieren, während eines Ausnahmezustandes sollte das Recht auf Information eingeschränkt werden können. Der Prozentuale Stimmanteil, der für die Einberufung von Volksabstimmungen zur Durchsetzung von Gesetzesinitiativen oder zur vorzeitigen Abberufung von Amtsinhabern nötig ist, sollte angehoben werden.

Als Problem hat sich für die Unterstützer der Reform letztlich das breite Spektrum der Vorschläge, die für viele Menschen unübersichtlich blieben, erwiesen. So konnten sich etwa die Gegner der Verfassungsreform je nach Zielgruppe ihre Kritikpunkte aussuchen, während die Unterstützer grundsätzlich das Gesamtpaket mit allen Änderungen verteidigen mußten – und auch unter den Unterstützern der Regierung gab es deutliche Kritik an einzelnen Punkten der Verfassungsänderung. Deshalb waren viele Stimmen gegen die Verfassungsreform auch ausdrücklich keine Stimmen gegen Präsident Hugo Chávez, eine Tatsache, auf die sogar die Opposition in ihrer Werbung gesetzt hatte: „Wir wählen keinen Präsidenten, wir stimmen über die Reform ab“.

Auch ein weiterer Kritikpunkt der Opposition war schwer von der Hand zu weisen. Das Instrument der Verfassungsreform ist im venezolanischen Grundgesetz für Änderungen „einer oder mehrerer Normen“ vorgesehen, „ohne die grundsätzliche Struktur und Grundprinzipien des Verfassungstextes zu ändern“ (Art. 342). Für weitergehende Änderungen wäre die Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung notwendig gewesen. Nach dem Vorschlag von Präsident Chávez im August hatte die Regierung auch noch in diesem Sinne argumentiert. Die 33 Änderungsvorschläge von Chávez umfaßten weniger als 10 Prozent des Verfassungstextes und tasteten weder die Struktur noch die Grundprinzipien des Verfassungswerkes an. Der Begriff „Sozialismus“ wurde gerade deshalb nicht in den ersten Artikeln der Verfassung eingeführt, sondern sollte nun zum ersten Mal in Artikel 16 auftauchen.

.Als aber dann die Nationalversammlung, also das Parlament, am 2. November letztlich 69 Änderungen und 15 Übergangsbestimmungen beschloß, fiel diese Argumentation den Unterstützern der Verfassungsreform schwer auf die Füße. Mit rund 20 Prozent des Verfassungstextes war nur noch mit Schwierigkeiten von einer Änderung „einer oder mehrerer Normen“ zu sprechen

Präsident Hugo Chávez wandte sich unmittelbar nach der Bekanntgabe der ersten offiziellen Zahlen durch den Nationalen Wahlrat (CNE) in einer Ansprache über alle Rundfunk- und Fernsehsender an die Bevölkerung. Er erkannte den Erfolg des „Nein“ an und sagte, ihm sei diese knappe Niederlage lieber als ein ähnlich knapper Erfolg. Es sei dies für ihn keine Niederlage, sondern ein neues „Por ahora“. Dieses „Por ahora“ sagte er unter Anspielung auf den von ihm angeführten gescheiterten Aufstand vom 4. Februar 1992. Damals hatte Chávez in einer kurzen Fernsehansprache die Verantwortung für die Ereignisse des damaligen Aufstandes übernommen und erklärt, für den Augenblick („por ahora“) habe man die angestrebten Ziele nicht erreicht. Durch diese Ansprache wurde Chávez erst bekannt und populär, was letztlich zu seiner späteren Wahl zum Präsidenten Venezuelas führte.

In der Tat könnte der Präsident mittelfristig gestärkt aus dieser Niederlage hervorgehen. Nicht nur, daß die Opposition mit einer umfassenden Kampagne die gegenwärtig geltende Verfassung verteidigt hat, dieselbe Verfassung, die sie jahrelang mißachtet und bekämpft hat. In der Diskussion um die Verfassungsreform haben sich außerdem die politischen Fronten in Venezuela weiter geklärt, Reformisten wie die sozialdemokratische Partei „Podemos“ oder unsichere Kandidaten wie der frühere Verteidigungsminister Venezuelas Raúl Isaías Baduell sind offen zur Opposition übergetreten. Andere Organisationen, wie die Partei „Heimatland für alle“ (PPT) und die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) haben sich trotz punktueller Kritik an der Verfassungsreform hinter das Projekt gestellt und aktiv für die Annahme der Reform geworben. Damit haben sie deutlich gemacht, daß sie den revolutionären sozialistischen Prozeß weiterhin unterstützen. Dies war von einigen Persönlichkeiten im Umfeld von Präsident Chávez in Zweifel gezogen worden, nachdem sich beide Parteien nicht der neuen Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) angeschlossen hatten.

Die jüngste Wahl mit ihrem knapp über 50 Prozent liegenden ablehnenden Ergebnis, zeigt, daß Wahlen in Venezuela eben nicht nach den Vorstellungen der Regierung ausfallen können. Jahrelang hatte die Opposition der Chávez-Regierung permanenten Betrug und Manipulationen bei den Wahlen und Abstimmungen vorgeworfen. Die oppositionellen Medien in Venezuela machten sich zum Sprachrohr solcher Vorwürfe, internationale Medien in den USA und Europa, auch in Deutschland, übernahmen kritiklos solche Darstellungen, die von internationalen Wahlbeobachtern schon in der Vergangenheit immer wieder als haltlos dementiert wurden.

Das konnte man auch im Vorfeld dieser Volksabstimmung wieder beobachten. Noch am Freitag vor dem Urnengang hatte der Sprecher des US State Departments in Washington, Sean McCormack, Befürchtungen geäußert, die Abstimmung könne nicht den Willen des Volkes wiedergeben, da es keine internationalen Wahlbeobachter gäbe. Tatsächlich haben aber Beobachter aus 39 Ländern die Abstimmung überwacht, aber aufgrund der diesmal kurzen Fristen sind die Europäische Union und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) nicht in der Lage gewesen, offizielle Beobachter zu entsenden. Beide Organisationen brauchen zur Vorbereitung solcher Delegation jeweils rund ein halbes Jahr.

Auch die deutschen Mainstream-Medien reduzierten die Verfassungsreform darauf, daß Hugo Chávez angeblich auf ‚ewig’ an der Macht bleiben wolle, und berichteten von „sanftem Druck“, der auf öffentliche Angestellte ausgeübt worden sei, die Verfassungsreform zu unterstützen. Sie alle wiederholten bis zum Überdruß die Phrasen vom „Populisten“ Chávez und von Chávez als „autoritär regierenden Präsidenten“ und ließen begeistert und unkommentiert Oppositionspolitiker zu Wort kommen, die die Zukunft Venezuelas als undemokratische „sozialistische Diktatur“ an die Wand gemalt haben. Es geht natürlich den Medien in Deutschland auch darum, jedwede sozialistische Idee von Anfang an zu desavouieren.

Es ist deshalb vermutlich auch zu viel verlangt, von diesen Medien nun eine Berichtigung ihrer Berichterstattung, vielleicht sogar eine Entschuldigung bei den Menschen in Venezuela, zu erwarten. Statt dessen zeigen schon die ersten Kommentare in den Online-Ausgaben der deutschen Zeitungen, daß das altbekannte Lied weiter gesungen werden soll. „Die von Präsident Chávez geplante Einführung des Sozialismus in Venezuela ist mit knapper Mehrheit gescheitert“, schreibt Focus-Online, bei n-tv heißt es noch knapper „Kein Chávez-Sozialismus“ und im faz.net der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heißt es freudig erregt, daß „nach dem Scheitern der angestrebten Verfassungsreform (…) der Linksnationalist Chávez nun nach Ende seiner Amtszeit im Jahr 2012 nicht mehr für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren (darf).“ Erfreut teilten die Frankfurter mit: „Wie der Wahlleiter mitteilte, sprachen sich knapp 51 Prozent der Wähler in einem Referendum gegen die Änderungen aus.“ Und vergaßen in ihrer Begeisterung, daß „der Wahlleiter“ eine Frau ist: nämlich die Präsidentin des Nationalen Wahlrates (CNE) Tibisay Lucena.

Tatsächlich aber werden es die Opposition und die internationalen Medien künftig schwerer haben, von Manipulationen zu phantasieren, denn mit dem Eingeständnis der Regierung, daß sie eine Niederlage bei einem Referendum zur Verfassung erlitten hat , wird gezeigt, daß es in Venezuela eine Demokratie des Volkes gibt. In der Bundesrepublik Deutschland, die anderen Staaten gern darlegt wie Demokratie zu funktionieren hat, gab es bis auf den heutigen Tag keine demokratische Abstimmung des ganzen Volkes zu Änderungen von Artikeln des Grundgesetzes. Das deutsche Grundgesetz wurde im Gegensatz zur venezolanischen Verfassung auch nie durch eine Volksabstimmung wirklich demokratisch legitimiert.

Vor der revolutionären Bewegung Venezuelas aber liegt nun ebenfalls eine Herausforderung. Sie hat nun die kommenden fünf Jahre Zeit, einen Nachfolger für Hugo Chávez zu finden und politisch aufzubauen. Es muß eine Persönlichkeit sein, die die Popularität des derzeitigen Präsidenten aufgreifen und die nächste Wahl gewinnen kann, denn Chávez darf bei der kommenden Präsidentschaftswahl Ende 2012 oder Anfang 2013 nach der derzeitig gültigen Verfassung nicht mehr als Kandidat antreten. Dies sollte der sozialistischen bolivarianischen Bewegung aber gelingen, denn tatsächlich haben sich in den vergangenen Jahren durchaus einige fähige und populäre Mitstreiter des Präsidenten profilieren können. Ironie dabei ist: einer der lange als möglicher Nachfolger von Hugo Chávez gehandelten Kandidaten hat sich durch sein Überlaufen zur gegnerischen Seite diesbezüglich selbst ins Aus katapultiert: General a. D. Raúl Isaías Baduel.

Erschienen am 3. Dezember 2007 im Online-Magazin hintergrund.de