Venezuela Bolivariana – Geschichte, Gegenwart und Perspektive(n)

Im ersten Halbjahr 2005 war ich im Rahmen der Vorbereitungen der 16. Weltfestspiele der Jugend und Studierenden, die vom 7. bis 15. August 2005 in Venezuela stattfanden, zu zahlreichen Veranstaltungen in vielen Orten der Bundesrepublik und Österreichs eingeladen. Aus den dort gehaltenen Referaten, die sich in ihrer Ausführlichkeit und in ihren Themenschwerpunkten unterschieden, entstand eine Schriftfassung, die ich Euch nachstehend servieren möchte. Bei den OrganisatorInnen der Veranstaltungen möchte ich mich in diesem Zusammenhang nochmal für die oft sehr spannenden Diskussionen bedanken!

Wenn in den deutschen Tageszeitungen, Radio und Fernsehen von Venezuela die Rede ist, dann geht es meistens leider nicht um die schöne Landschaft, die Kultur oder die Reisemöglichkeiten des Landes. Statt dessen dreht sich die Berichterstattung meist um Vokabeln wie den „autoritär regierenden Präsidenten“, der ein „Linkspopulist“ und „Putschist“ sei und „Venezuela an Kuba verkauft“ sowie sein Land „an den Abgrund eines Bürgerkrieges“ gebracht habe und sowieso ein „gefährlicher neomarxistischer Agitator“ sei.

Was aber treibt die deutschen Medien dazu, so über das südamerikanische Land zu berichten? Was für Entwicklungen vollziehen sich tatsächlich in Venezuela? Darauf eine Antwort zu geben, soll das Ziel dieses Referates sein.

Historischer Abriss

Venezuela liegt an der Nordküste Südamerikas und bildet somit sowohl einen Teil der Karibik als auch der Andenregion und grenzt ebenfalls an den brasilianischen Regenwald. So vereinen sich unterschiedliche kulturelle Traditionen zu einer attraktiven Mischung, die dazu geführt hat, dass die Toruismuswerbung für Venezuela unter das Motto „Das Beste aus zwei Welten“ gestellt wurde.

„Entdeckt“ wurde das heutige Venezuela 1498 durch Kolumbus. Doch natürlich war dieses Gebiet auch vorher schon besiedelt, wenn auch dünn. Die zahlreichen Indio-Stämme haben in Venezuela allerdings nicht solche Zeugnisse hochentwickelter Kulturen hinterlassen, wie wir sie zum Beispiel aus Peru kennen.

Nach der „Entdeckung“ blieb Venezuela über Jahrhunderte eine Kolonie, hauptsächlich beherrscht von der spanischen Krone. Der Name des Landes geht darauf zurück, dass sich die europäischen Eroberer von den Pfahlbauten der Indígenas an Venedig erinnert fühlten und das Land deshalb (ausgerechnet!) „Klein-Venedig“ – Venezuela – nannten. Zwischen 1528 und 1556 übertrug der spanischen König Karl V. Venezuela dem Augsburger Handelshaus der Welser als Pfandbesitz für gewährte Kredite.

Erst 1811 erklärte Venezuela seine Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialherrschaft, es sollte allerdings noch weitere zehn Jahre dauern, bis die endgültige Befreiung des Landes von den Europäern gelang. Bis 1830 bildete Venezuela gemeinsam mit den heutigen Republiken Kolumbien, Panama und Ecuador die Republik Kolumbien, heute meist als „Groß-Kolumbien“ bezeichnet, um es von der jetzigen Republik Kolumbien unterscheiden zu können. Nach dem Zerfall dieser gemeinsamen Republik entstanden die „Vereinigten Staaten von Venezuela“, die 1953 in „Republik Venezuela“ umbenannt wurden.

Simón Bolívar

Wer das Ringen um die Unabhängigkeit Venezuelas verstehen will, kommt nicht am Namen Simón Bolívar vorbei. Und auch wer heute Venezuela besucht, begegnet diesem Namen auf Schritt und Schritt, angefangen bei der Landung auf dem Internationalen Flughafen Simón Bolívar, über das Wechseln der Euros in die Landeswährung Bolivares bis hin zu den allgegenwärtigen Bezügen auf Bolívar an Häuserwänden, in Erklärungen der Bolivarianischen Regierung der Bolivarianischen Republik Venezuela und schließlich zu den unzähligen Bilder, Denkmälern,…

Simón Bolívar wurde am 24. Juli 1783 als Sohn einer reichen Aristokraten- und Großgrundbesitzerfamilie geboren. Bereits mit neun Jahren verlor er seine Eltern und wurde im Haus von Verwandten durch wechselnde Lehrer erzogen, unter ihnen einer der wichtigsten Dichter und Philosophen der venezolanischen Geschichte, Andrés Bello, und vor allem Simón Rodríguez (alias Samuel Robinson), der ein Anhänger der französischen Aufklärung war, für seine Zeit sehr fortgeschrittene Ideen vor allem zur Frage der Erziehung vertrat und von vielen Autoren heute zu den utopischen Sozialisten gezählt wird. Leider würde es den Rahmen dieses Referates sprengen, näher auf diese wichtige Persönlichkeit einzugehen, die wie kein anderer die Entwicklung der Ansichten und Positionen Bolívars beeinflußte. Mit Bolívar zusammen reiste Rodríguez durch Europa. Und vor Simón Rodríguez schwor Simón Bolívar am 15. August 1805, also vor genau 200 Jahren, sein Leben der Befreiung seiner Heimat von der Kolonialherrschaft zu widmen: „Ich schwöre vor dir; ich schwöre beim Gott meiner Eltern; ich schwöre bei ihnen; ich schwöre bei meiner Ehre und ich schwöre bei meiner Heimat, daß mein Arm nicht ruhen und meine Seele nicht rasten werden, bis die Ketten zerbrochen sein werden, die uns heute durch den Willen der spanischen Macht unterdrücken!“

Unter der Führung Bolívars gelang 1819 die Befreiung Nueva Granadas, der heutigen Republik Kolumbien. Von seinen Mitbürgern wurde Bolívar zum Präsidenten Groß-Kolumbiens ernannt, dessen Territorium zu diesem Zeitpunkt noch teilweise von den Kolonialherren besetzt war. 1821 gelang es schließlich, die Spanier endgültig zu vertreiben, drei Jahre später wurde Peru befreit. Wenig später wurde die Republik Bolivien auf dem Gebiet von Alto Peru gegründet, deren erster Präsident ebenfalls Bolívar wurde. Bolívar konnte jedoch sein Ziel einer Einheit Südamerikas – die er als einzigen Garanten für die Verteidigung der Souveränität der neuen Republiken ansah – nicht realisieren. Im Jahr seines Todes, 1830, zerfiel Groß-Kolumbien und Bolívar stellte resignierend fest: „Ich habe das Meer gepflügt“. Trotzdem sind heute vor allem seine antiimperialistischen und für soziale Gerechtigkeit eintretenden Positionen ein wichtiger Leitfaden für die sich in Südamerika vollziehenden Entwicklungen.

Venezuela in den 90er Jahren

Das heutige Venezuela ist mit 912.000 Quadratkilometern mehr als zweieinhalbmal so groß wie Deutschland, hat mit rund 25 Millionen EinwohnerInnen allerdings weniger als ein Drittel der in der Bundesrepublik lebenden Menschen. Da sich ein Großteil der venezolanischen Bevölkerung darüber hinaus in Caracas und den anderen Großstädten konzentriert, sind große Teile des Landes sehr dünn besiedelt.

Die wirtschaftliche und – zum Beispiel für die USA – strategische Bedeutung Venezuelas ergibt sich aus dem großen Erdölreichtum des Landes. Venezuela ist der größte Erdölexporteur außerhalb der Golfregion. Die USA beziehen, je nach Quelle, zwischen 30 und 40 Prozent ihres Erdöls aus Venezuela, das entspricht 60 Prozent der venezolanischen Erdölexporte.

Trotzdem lebten Ende der 90er Jahre 80 Prozent der Venezolanerinnen und Venezolaner in Armut oder extremer Armut, offiziell 10 Prozent der Erwachsenen waren Analphabeten, konnten also nicht Lesen und Schreiben. An der Regierung wechselten sich seit 40 Jahren Sozialdemokraten (Acción Democrática, AD) und Christdemokraten (Copei) ab.

Im Februar 1989 übernahm mit Carlos Andrés Pérez ein Sozialdemokrat die Präsidentschaft. Doch kaum gewählt erfüllte dieser Präsident anstelle der versprochenen Politik der sozialen Verbesserungen die Forderungen des Internationalen Währungsfonds und setzte massive Sparmaßnahmen und Kürzungen durch. Eine Folge war, daß die Fahrpreise der öffentlichen Nahverkehrsmittel praktisch über Nacht drastisch anstiegen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die ausgegrenzten und verarmten Massen zogen in Protestzügen aus den Armenvierteln in das Zentrum von Caracas. Die Antwort der Regierung war blutig. Innerhalb einer Woche wurden mehrere Tausend Menschen von Polizisten und Soldaten umgebracht. Augenzeugen berichten, daß die Regierungstruppen sogar mit schwarzen Listen von Haus zu Haus gingen und angebliche oder tatsächliche Aktivisten regelrecht hinrichteten. Erst in den letzten jahren hat die Regierung die Verantwortung für das Massaker übernommen und zahlt den damals Verletzten sowie den Hinterbliebenen der Ermordeten Entschädigungen.

In den Streitkräften führte das Massaker zu heftigen Diskussionen und zu einem weiteren Anwachsen der ohnehin vorhandenen Unzufriedenheit. Dazu muß man wissen, daß die soziale Zusammensetzung der venezolanischen Streitkräfte sich grundsätzlich von der in anderen Ländern des Kontinents unterscheidet. Während wir bei südamerikanischen Militärs schnell an Diktatoren wie Pinochet und Staatsstreiche wie in Chile oder Argentinien denken, beziehen sich die venezolanischen Streitkräfte in ihrer Tradition direkt auf die Befreiungsarmee Simón Bolívars. Während es in Chile, Argentinien und anderen Ländern in Bürgerfamilien zum „guten Ton“ gehört, die Söhne zu Offizieren ausbilden zu lassen, kaufte sich die venezolanische Oberschicht lieber vom Militärdienst frei. So gelangten Angehörige der unteren sozialen Schichten auch in höhere Offiziersränge. Diese soziale Zusammensetzung erschwerte die Herausbildung eines von der Gesamtbevölkerung abgehobenen Korpsgeistes.

Zu dieser Gruppe von Offizieren aus ärmlichen Verhältnissen gehört auch Hugo Chávez. Unter seiner Führung erhoben sich am 4. Februar 1992 Militärs in mehreren Garnisonen gegen die Regierung von Carlos Andrés Pérez. Die Rebellion war eine direkte Reaktion auf das Massaker von 1989. In mehreren Städten gelang es den aufständischen Truppen, die Kontrolle zu übernehmen. Aber in der Hauptstadt Caracas scheiterten die rebellierenden Soldaten bei dem Versuch, die strategischen Punkte zu besetzen. Die Bevölkerung wurde von der Aktion überrascht und blieb Beobachter, wenn auch zu einem großen Teil die Rebellion begrüßend.

Als deutlich wurde, daß es den Aufständischen nicht gelang, die Kontrolle in Caracas zu übernehmen, entschied Hugo Chávez als Comandante der Rebellen, ein weiteres Blutvergießen zu verhindern und die Waffen niederzulegen. Um die ihn unterstützenden Soldaten in anderen Städten zu erreichen, mußten ihn die Regierung und das Oberkommando der Streitkräfte im Fernsehen sprechen lassen. Durch diese kurze Fernsehansprache wurde Chávez in Venezuela bekannt und populär. Vor allem zwei Sätze aus der kaum mehr als eine Minute langen Ansprache blieben im kollektiven Gedächtnis. Zum einen die Tatsache, daß Chávez die Verantwortung für die Ereignisse übernahm. Das war etwas für die Venezolaner fast völlig unbekanntes. Und zum anderen seine Formulierung, man habe die Ziele „für den Augenblick“ – „por ahora“ – nicht erreicht. Dieses „Por ahora“ wurde in den folgenden Jahren zu einer zentralen Parole der gesamten Oppositionsbewegung.

Hugo Chávez wurde am 28. Juli 1954 in Sabaneta im Bundesstaat Barinas geboren, und zwar als Sohn eines armen Lehrerehepaares, das in einer kleinen Ortschaft unterrichtete, in der es nicht einmal elektrischen Strom gab. Als Mestize – d.h. unter seinen Vorfahren waren nicht nur spanische Eroberer, sondern auch Indios – gehörte er der Gesellschaftsschicht an, die traditionell von jeder Beteiligung an der Macht in Venezuela ausgeschlossen war. Und so sollte es nach dem Willen der Herrschenden auch bleiben. Der junge Chávez entschied sich, Offizier zu werden, u.a. weil ihn in den Streitkräften die Möglichkeit reizte, Baseball spielen zu können.

Seine Offiziersausbildung begann zu einem Zeitpunkt, als die Guerrilla, die auch in Venezuela in den 60er Jahren die Herrschenden herausgefordert hatte, militärisch und politisch weitgehend besiegt war. Das Oberkommando wollte verhindern, daß zu einem späteren Zeitpunkt erneut solche Guerrillabewegungen entstehen konnten. Um den Anzeichen frühzeitig begegnen zu können, bzw. um Guerrillas besiegen zu können, sollten die angehenden Offiziere nun auch lernen, warum die Guerrilleros zu den Waffen griffen, welche Ziele sie hatten. Deshalb bekamen die Offiziersschüler an der Militärakademie auch Bücher zu lesen, die sie früher nicht anfassen durften, zum Beispiel Werke von Marx, Lenin, Mao Tse-Tung oder den Theoretikern der westeuropäischen Studentenrevolte von 1968. Manche Offiziere machten von diesem Wissen anderen Gebrauch, als es sich die Generäle vorgestellt hatten. Chávez hatte es besonders Mao Tse-Tung angetan, besonders dessen Forderung nach einer engen Einheit zwischen Soldaten und der Zivilbevölkerung.

Nach dem Scheitern des Aufstandes vom 4. Februar 1992 mußte Hugo Chávez ins Gefängnis. Regierungschef Carlos Andrés Pérez hatte sich jedoch nur kurzzeitig an der Macht gerettet, bereits im Mai 1993 wurde „CAP“ in Folge eines gegen ihn eingeleiteten Korruptionsprozesses seines Amtes enthoben. Sein Nachfolger wurde Rafael Caldera, der am 2. Februar 1994 sein Amt antrat. In seinem Wahlkampf hatte er eine linke Politik versprochen und Verständnis für den Aufstand vom 4. Februar 1992 geäußert. Von den linken Versprechungen wollte er bald schon nichts mehr wissen, aber unter dem Druck der Volksbewegung mußte er eine Amnestie für die gefangenen „Putschisten“ aussprechen. So wurde Chávez im März 1994 aus dem Gefängnis entlassen, mußte aber aus dem Militär ausscheiden. Daraufhin gründete er die zivile Partei Bewegung Fünfte Republik (MVR).

Unterstützt von einem breiten und durchaus heterogenen Bündnis stellte sich Hugo Chávez 1998 der Präsidentschaftswahl. Ursprünglich war er ein deutlicher Außenseiter, die ersten Umfragen sagten im ein Ergebnis im einstelligen Prozentbereich voraus. Je länger jedoch der Wahlkampf andauerte, desto populärer wurde die von Chávez und dem „Patriotischen Pol“ vorgeschlagene Politik, so daß Chávez am 6. Dezember 1998 mit 57 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde. Wenige Tage zuvor hatten Sozialdemokraten (AD) und Christsoziale (Copei) noch ihre Kandidaten zurückgezogen und zur Wahl eines ultrarechten Mannes – Salas Römer – aufgerufen, um den „Putschisten“ Chávez zu verhindern. Doch auch dieses Manöver nutzte nichts mehr, so daß Hugo Chávez am 2. Februar 1999 das Amt antrat und seinen Amtseid „auf die dem Untergang geweihte Verfassung“ ablegte.

Bolivarianische Revolution

Wichtigstes Wahlversprechen des „Patriotischen Pols“ war die Neubegründung Venezuelas durch eine Verfassunggebende Versammlung gewesen. Chávez hielt Wort. Das erste Dekret seiner Amtszeit war, nach der Ernennung seines Ministerkabinetts, die Einberufung einer Volksabstimmung über die Frage, ob die Menschen Venezuelas sich für die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung aussprechen. Die im April 1999 durchgeführte Befragung war die erste Volksabstimmung in der Geschichte Venezuelas und führte zu einer deutlichen Zustimmung für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Die Verfassunggebende Versammlung, die Constituyente, wurde im Sommer 1999 gewählt und erarbeitete innerhalb von 100 Tagen die neue Verfassung, die am 15. Dezember 1999 erneut zur Abstimmung gestellt und mit 71 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen wurde.

Die zentralen Elemente der „Bolivarianischen Revolution“, die sich auf die entsprechenden Regelungen in der neuen Verfassung stützt, sind:

* * Souveränität des Landes. Was das bedeutet, bekamen schnell die USA zu spüren. Schon kurz nach seinem Amtsantritt entzog Chávez den USA die Überflugrechte durch den venezolanischen Luftraum. Bis dahin hatte die US-Luftwaffe regelmäßig Venezuela überflogen, um in Kolumbien „den Drogenhandel“, real: die Aufständischen, zu bekämpfen. Venezuela, das sich in dem Konflikt für neutral erklärte, beendet somit auch die indirekte Unterstützung des kolumbianischen Regimes.
* * Partizipative Demokratie. Die Verfassung verfolgt das Ziel, die bisherige „repräsentative Demokratie“, wie wir sie auch hier kennen und in der es darum geht, alle paar Jahre ein Kreuzchen zu machen und danach die Klappe zu halten, durch ein System direkterer Beteiligung des Volkes an den es betreffenden Entscheidungen zu ersetzen. Deshalb enthält die Verfassung zahlreiche Elemente sozialer Kontrolle und Selbstverwaltung durch das organisierte Volk. Eine der bei uns bekanntesten Regelungen ist die Möglichkeit, jeden gewählten Mandatsträger nach der Hälfte seiner Amtszeit abzuwählen, wenn 20 Prozent der Wahlberechtigten dies mit ihrer Unterschrift fordern. Die Opposition versuchte im vergangenen August, diese Regelung zum Sturz des Präsidenten Chávez auszunutzen, scheiterte jedoch deutlich.
* * Verbot von Privatisierungen. Die Verfassung legt fest, daß die wichtigsten staatlichen Industrieunternehmen nicht privatisiert werden dürfen (Art. 302). Konkret wird in dieser Hinsicht der wichtige Erdölkonzern PdVSA genannt (Art. 303), der für den Löwenanteil des venezolanischen Bruttoinlandsprodukts und rund 80 Prozent der Staatseinnahmen verantwortlich ist.
* * Alphabetisierung. Alle Menschen Venezuelas sollen Lesen und Schreiben können. Dazu wurde nach mehreren erfolglosen Versuchen 2003 die Mission Robinson geschaffen, durch die es gelang, mehr als 1,3 Millionen Menschen zu alphabetisieren. * Gesundheitsversorgung. Auch die kostenlose und ausreichende Versorgung der Menschen mit Gesundheitseinrichtungen und medizinischem Personal ist ein wichtiger Inhalt de revolutionären Politik. Nachdem mehrere Versuche gescheitert waren, die venezolanische Ärzteschaft zu einer aktiveren Rolle bei der Versorgung der armen Bevölkerung zu bewegen, wurde ebenfalls 2003 mit kubanischer Hilfe das Programm Barrio Adentro geschaffen. Dieses Netz erreicht mittlerweile die große Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung – kostenlos.
* * Gerechtere Verteilung von Grund und Boden. Der Kampf gegen den Großgrundbesitz ist einer der wichtigsten Inhalte des bolivarianischen Prozesses. Neben dem Streben nach Gerechtigkeit geht es auch darum, daß sich Venezuela wieder landwirtschaftlich versorgen kann und nicht mehr, wie bislang, die große Mehrheit seiner Lebensmittel importieren muß.

Der bis dahin uneingeschränkt Herrschenden Gesellschaftsschicht und den USA schmeckte dieses Programm überhaupt nicht. Und so griffen sie zu allen Mitteln, um den Präsidenten und seine Regierung zu stürzen. Zu diesen Mitteln gehörten von Anfang an Mordanschläge auf den Präsidenten Chávez und andere Vertreter der Regierung. Der erste dieser Anschläge wurde bereits im Dezember 1999 aufgedeckt, wenige Tage vor der Volksabstimmung über die neue Verfassung.

Mehrfach riefen Unternehmerverband Fedecámaras und die rechte Gewerkschaft CTV zu „Generalstreiks“ auf. Dabei handelte es sich meist um regelrechte Aussperrungen. Arbeitern und Angestellten wurde mit Entlassung gedroht, wenn sie es wagen sollten, am Arbeitsplatz zu erscheinen.

Ein solcher „Streik“ führte dann am 11. April 2002 zum Putsch. Eine Demonstration der Opposition, die im Rahmen dieser Aktionen stattfand, wurde illegal von den Führern der Opposition in Richtung auf den Präsidentenpalast Miraflores umgelenkt. Dort hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits Tausende von Anhängerinnen und Anhängern der bolivarianischen Bewegung versammelt, um ihre Unterstützung für den Präsidenten Chávez zu demonstrieren. Als die oppositionelle Demonstration sich dem Palast näherte, fielen plötzlich Schüsse. Sowohl bolivarianische als auch oppositionelle Demonstranten wurden Opfer von Heckenschüssen, die aus den umliegenden Hochhäusern gezielt auf die wehrlosen Menschen schossen.

Für die oppositionellen Fernsehsender war die Sache sofort klar. Wieder und wieder zeigten sich Bilder von „Chavisten“, die angeblich auf die Oppositionsdemo schossen. „Chávez läßt auf friedliche Demonstranten schießen“, so die Botschaft dieser Bilder. Hohe Generäle des Oberkommandos der Streitkräfte nutzten diese Bilder, um dem Präsidenten ihre Gefolgschaft aufzukündigen.

Später wurde bekannt, daß diese Erklärung der Putschisten bereits aufgezeichnet worden waren, als noch überhaupt keine Schüsse gefallen waren. Ein Beweis mehr, daß die Putschisten eine Provokation geplant hatten, um einen Vorwand für ihren Putsch zu haben.

Womit aber weder die Putschisten noch ihre Helfershelfer in Washington gerechnet hatten: mehrere Millionen Menschen gingen auf die Straße und forderten die Rückkehr des Präsidenten Chávez. Und auch die große Mehrheit der Streitkräfte bekannte sich zur verfassungsmäßigen Ordnung und stellte sich gegen die Putschisten. So brach der Staatsstreich innerhalb von 47 Stunden zusammen und Chávez kehrte zurück ins Präsidentenamt.

Die Opposition wollte aus dieser Niederlage nicht lernen. Im Dezember 2002 rief sie zu einem erneuten „Generalstreik“ auf. Diese Massenaussperrung konzentrierte sich schnell auf die Erdölindustrie. Ziel der Opposition war es, daß Venezuela kein Öl mehr exportieren konnte und deshalb die Regierung regelrecht ausgehungert würde. In der Tat gelang es der Opposition, Venezuela Schäden in Milliardenhöhe zuzufügen, doch der erhoffte Sturz des Präsidenten bleib aus. Im Gegenteil: als der „Streik“ Anfang Februar 2003 zusammenbrach, konnte die Regierung endlich den Erdölkonzern von den Saboteuren reinigen. Bis dahin hatte PdVSA als der ineffizienteste Erdölkonzern der Welt gegolten, der größte Teil der Gewinne war in die Taschen der Manager und dunkle Kanäle geflossen, kam aber nicht den eigentlichen Eigentümern des Konzerns, dem venezolanischen Volk zugute. Nach der achtwöchigen Arbeitsverweigerung konnte die Regierung Tausende von Managern und hohen Angestellten aus dem Wasserkopf Konzernzentrale entlassen und so die Strukturen des Konzerns deutlich verkleinern. Seither können die Gewinne des Konzerns direkt dem Volk zugute kommen.

Die Missionen

Sichtbares Ergebnis dieses Erfolges sind die sozialen Missionen. Ursprünglich waren diese Missionen eine Reaktion auf die bürokratischen Strukturen in den Ministerien, durch die immer wieder Erfolge der sozialen Regierungsprogramme verhindert wurden. Mittlerweile zeigte sich jedoch, daß die breite Mobilisierung der Bevölkerung, die mit diesen Missionen verbunden ist, einen ganz eigenen Wert darstellt.

Der Begriff der Missionen entstand mit der Mission Robinson, dem umfangreichen Alphabetisierungsprogramm. Ausgehend von den Erfahrungen dieser Mission entwickelten sich zahlreiche weitere dieser Kampagnen, so dass es heute in Venezuela – je nach zählweise – bis zu zwei Dutzend Missionen gibt.

Die wichtigsten Missionen sind:

Mission Robinson

Venezuelas Präsident Hugo Chávez kündigte am 18. Mai 2003 eine großangelegte Kampagne gegen den Analphabetismus an. Als Namenspatron dieser großen Kampagne nach dem Vorbild der entsprechenden Aktion im revolutionären Kuba 1961 wählte Chávez Samuel Robinson. So hatte sich Simón Rodríguez, der Lehrer Bolívars, im Exil genannt. Seine Schriften zur Erziehung und pädagogischen Experimente waren für die damalige Zeit – das 18. und 19. Jahrhundert – äußerst weitreichend, so daß sich Venezuelas Präsident in seinem Ziel, allen Venezolanerinnen und Venezolanern Bildung zukommen zu lassen, mit Recht auf auf Rodríguez berufen konnte.

Die Mission entwickelte sich zum bis dahin größten Erfolg der bolivarianischen Regierung und der hinter ihr stehenden Bewegung. Die in der Mission Robinson aktive Sonia Romero von der Kommunistischen Jugend Venezuelas (JCV) erzählt: „Wir sind dabei in Gegenden gekommen, in denen man noch nichteinmal etwas vom Präsidenten Chávez gehört hatte.“

Die Zahlen sprechen für sich: Bis Ende September vergangenen Jahres schlossen mehr als 1,2 Millionen Menschen die Alphabetisierungskurse der Mission Robinson ab, mittlerweile ist diese Zahl auf deutlich über 1,3 Millionen angestiegen. Fast 102.000 Menschen arbeiten als Vermittler (Lehrer) in den Kursen.

Fast alle der Absolventinnen und Absolventen dieser ersten Stufe besuchen auch die Kurse der „Mission Robinson II“, in denen sie auch das normalerweise in den ersten Schuljahren vermittelte Wissen erwerben können.

Aus der Mission Robinson ergaben sich außerdem Erkenntnisse, die zu den weiteren sozialen Missionen und Programmen führten. So erkannten die Vermittlerinnen und Vermittler, wie viele ihrer Schülerinnen und Schüler unter nicht ausreichend behandelten Krankheiten litten.

Barrio Adentro

Aus dieser Erkenntnis entwickelte sich das Programm „Barrio Adentro“ (Im Inneren des Viertels). Den Namen „Mission“ erhielt es erst nachträglich, als es zu einem Bestandteil einer umfangreichen Kette von Missionen geworden war. „Barrio Adentro“ verfolgt das Ziel, allen Menschen des Landes Zugang zur Gesundheitsversorgung zu schaffen. Ein großer Teil der Menschen Venezuelas war bis dahin von ärztlicher Betreuung weitgehend ausgeschlossen, da ein großer Teil der venezolanischen Ärzteschaft sich lieber darauf beschränkte, in den wohlhabenden Vierteln der Städte hübsche, saubere Praxen zu unterhalten, als sich mit den „schmutzigen“, „ungepflegten“ und „unzivilisierten“ Armen abzugeben. Auf mehrere Appelle der Regierung, auch den weniger reichen Menschen zu helfen, reagierte kaum ein Arzt. Menschen aus der Unterschicht konnten sich das teure Medizin-Studium ohnehin nicht leisten.

In dieser Situation unterbreitete Cuba das Angebot, wie vielen anderen Ländern auch Venezuela medizinische Hilfe durch kubanische Ärztinnen und Ärzte zu leisten.

Die Opposition schrie auf, die kubanischen Ärzte würden den Venezolanern „die Arbeitsplätze wegnehmen“. Angesichts der Vorgeschichte ein dreister Vorwurf, der noch überboten wurde von der von jeder Sachkenntnis freien Behauptung, die kubanischen Ärztinnen und Ärzte verstünden ihr Handwerk nicht.

Heute arbeiten über 15.000 kubanische ÄrztInnen, ZahnärztInnen und PflegerInnen aus Kuba in Venezuela und betreuen in 8700 Praxen über 14,5 Millionen Menschen, d.h. mehr als die Hälfte der Bevölkerung Venezuelas. Seit Sommer 2003 wurden von diesen MedizinerInnen über 93 Millionen Beratungen und Behandlungen durchgeführt. Gleichzeitig werden tausende junger VenezolanerInnen in Cuba und Venezuela medizinisch ausgebildet, um nach Abschluß ihrer Ausbildung die KubanerInnen ablösen zu können.

Was man in Zeiten der deutschen Parxisgebühr usw. Auch nicht vergessen sollte: alle Beratungen und Behandlungen im Rahmen von „Barrio Adentro“ sind für die PatientInnen ebenso kostenlos wie die verschriebenen Medikamente.

Unterstützt werden die Ärztinnen und Ärzte der Mission von Nachbarschaftskomitees, die sich um Vorbeugung, Hygiene und Aufklärung der Menschen in den Vierteln kümmern. Dazu gehört auch, den Menschen die Bedeutung einer gesunden und ausgewogenen Ernährung zu vermitteln.

Mission Mercal

Doch wie können sich Menschen in einem Armenviertel gesund ernähren, wenn sie sich kaum die billigsten Lebensmittel leisten können. Hier kommt die Mission Mercal (Mercado de Alimentos = Lebensmittelmarkt) ins Spiel. In über 13.000 Märkten, darunter fast 300 mobile Verkaufsstände, können sich rund 9,3 Millionen Menschen mit Lebensmitteln versorgen, die zu Preisen unter den regulären Handelspreisen angeboten werden. Die Produktpalette umfaßt alle wichtigen Waren des Grundbedarfs wie Salz, Reis, Bohnen, Mais, Mehl usw.

Die günstigen Preise kann Mercal anbieten, weil die Lebensmittel in großen Maßstab eingekauft werden und so Mengenrabatte erziehlt werden, die an die EndkundInnen weitergegeben werden. Dabei gibt es strenge Vorschriften, wieviel Prozent der Preise die Zwischen- und Endverkaufsstellen auf den ursprünglichen Preis aufschlagen dürfen, um ihre Kosten zu decken. Bevorzugt werden Lebensmitteln von landwirtschaftlichen Kooperativen abgenommen, insbesondere von solchen, die im Rahmen der Neuverteilung brachliegender Ländereien an landlose Bauern („Mission Ezequiel Zamora“) entstanden sind. Für die Logistik und den Transport der Lebensmittel werden zu einem großen Teil Soldaten eingesetzt, was sich ebenfalls kostensparend auswirkt.

Mittlerweile gibt es mehr als ein Dutzend Missionen. Die genaue Zahl schwankt, je nachdem, was als Mission mitgerechnet wird. Auf der Homepage des Netzwerks Venezuela sind 12 Missionen aufgelistet, nicht mitgezählt werden dort aber z.B. die Kampagne um die Abstimmung beim Referendum im August 2004 („Mission Florentino“) oder die erst in jüngster Zeit als Mission bezeichnete Bodenreform „Mission Ezequiel Zamora“. Auch auf regionaler und lokaler Ebene gibt es zahlreiche Initiativen, die als Missionen bezeichnet werden.

So sind die Missionen zum Rückgrat des Prozesses geworden. „All das kann man nennen wie man will, aber vor dem Hintergrund der Geschichte Venezuelas können wir diesen Prozeß durchaus als eine Revolution bezeichnen. Wir haben den Reichen nicht ihr Häuschen genommen, aber die Macht, sich Regierungen anzueignen.“ So beschrieb Venezuelas Vizepräsident José Vicente Rangel vor anderthalb Jahren die vor sich gehende Entwicklung. Eine Entwicklung, die sich in diesen Monaten weiter vertieft. Präsident Chávez sagt mittlerweile sehr deutlich, dass die kapitalistische Ordnung auch in Venezuela überwunden werden muß, wenn die sozialen Ziele des bolivarianischen Prozesses realisiert und die Probleme überwunden werden sollen: „Nur eine sozialistische Wirtschaftsordnung ist in der Lage, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen.“

Als Referat gehalten bei meinen Veranstaltungen zur Vorbereitung der Weltfestspiele der Jugend und Studierenden 2005 in Venezuela