Unbequeme Wahrheiten

Es waren gut zwölf Minuten in einem insgesamt neunstündigen Programm: Das Grußwort, das Iván Márquez am Sonnabend an die Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin gerichtet hat, sorgte in Kolumbien für großes Aufsehen. Márquez war zwischen 2012 und 2016 Chefunterhändler der damals bewaffnet kämpfenden FARC-Guerilla bei den Friedensverhandlungen in Havanna. In seinem Statement – nach einer Würdigung des Kampfes von Rosa Luxemburg – zog er eine »niederschmetternde« Bilanz der Umsetzung des Ende 2016 zwischen den FARC und der kolumbianischen Regierung unterzeichneten Abkommens. Mehr als 400 soziale Führungspersönlichkeiten des Landes und mindestens 85 Guerilleros seien seither ermordet worden. »Das Abkommen verfolgte das Ziel, die Sprache der Waffen aus der Politik zu verbannen, doch die Waffen werden weiter eingesetzt, um die Oppositionellen physisch auszurotten.«

Im vergangenen April hatte Márquez erklärt, den ihm nach dem Friedensvertrag zustehenden Sitz im kolumbianischen Senat wegen fehlender Sicherheitsgarantien nicht einzunehmen. Mitte des Jahres verließ er dann die Sammlungszone, in der er zusammen mit anderen ehemaligen Guerilleros auf seine Wiedereingliederung in das zivile Leben warten sollte. Seither hält er sich an einem unbekannten Ort auf, über den er sich auch in dem Grußwort nicht näher äußerte.

Márquez reagierte mit seinem Rückzug auf die Verhaftung eines anderen führenden Mitglieds der zur legalen Partei gewordenen FARC, Jesús Santrich, im vergangenen April. Diesem droht wegen angeblicher Kontakte zu Drogenkartellen die Auslieferung in die USA. Márquez wirft den kolumbianischen Behörden in diesem Zusammenhang eine »juristische Konstruktion« vor, um Santrich rechtswidrig festzuhalten.

Es sei ein Fehler der FARC gewesen, die Waffen niederzulegen, bevor die Wiedereingliederung der Guerilleros in das zivile Leben gesichert war, so Márquez nun in seiner Grußbotschaft. »Manuel Marulanda Vélez, der bedeutende oberste Comandante der FARC, hatte gewarnt, dass man die Waffen als Garantie für die Erfüllung der Abkommen behalten muss.«

Nachdem die der Widerstandsbewegung in Kolumbien verbundene Bolivarische Presseagentur (ABP) das Statement am Sonnabend auf ihrer Homepage veröffentlicht hatte, griffen zunächst die britische BBC und dann unzählige südamerikanische Medien seine Erklärung auf. »Ehemaliger FARC-Führer kehrt aus dem Dunkel zurück«, meldete etwa das englischsprachige Programm des venezolanischen Senders Telesur. Das kolumbianische Internetportal Pulzo schreibt über die Rosa-Luxemburg-Konferenz: »Das von der deutschen marxistischen Tageszeitung junge Welt ausgerichtete Treffen war die perfekte Entschuldigung, die Márquez finden konnte, um in dem Video aufzutauchen.« Auch in den Nachrichtensendungen diverser Fernsehkanäle Kolumbiens wurde über die Erklärung berichtet.

Die Regierung in Bogotá sah sich angesichts der großen Aufmerksamkeit gezwungen, mit einer Antwort an die Öffentlichkeit zu gehen. Emilio Archila, der »Hohe Rat für die Postkonfliktzeit«, machte in seiner Erklärung die ermordeten Guerilleros selbst für ihren Tod verantwortlich. Die große Mehrheit von ihnen sei »leider zu rechtswidrigen Aktivitäten zurückgekehrt«, behauptete er. Von den 400 Aktivisten aus Menschenrechtsgruppen, Gewerkschaften und linken Parteien, deren Ermordung Márquez ebenfalls beklagt hatte, sprach Archila dagegen nicht. Dabei gehen die kolumbianischen Behörden selbst allein für 2018 von 172 ermordeten Menschenrechtsaktivisten oder Führungspersönlichkeiten sozialer Gruppen aus – und ein Ende ist nicht in Sicht: Seit Anfang 2019 wurden einem Bericht des Fernsehsenders Telesur vom Sonnabend zufolge bereits acht Angehörige oppositioneller Bewegungen tot aufgefunden. Am Freitag entdeckten Ermittler den Leichnam von Faiber Manquillo, einem Mitglied der Bauernbewegung im Departamento Cauca. Er war am 27. Dezember als vermisst gemeldet worden.

Erschienen am 15. Januar 2019 in der Tageszeitung junge Welt