Tränengas für die Opfer

In Haiti sind auch am Donnerstag, mehr als eine Woche nach dem verheerenden Erdbeben, noch Lebende aus den Trümmern geborgen worden. In Port-au-Prince zogen Nachbarn ein elfjähriges Mädchen aus einem zerstörten Haus. »Es ist ein wahres Wunder, sie kommt Stück für Stück zurück ins Leben«, sagte die Ärztin Dominique Jean der Nachrichtenagentur AFP.

Mit Tränengas und Gummigeschossen sind hingegen am Mittwoch Blauhelmsoldaten der UN-Stabilisierungsmission für Haiti (MINUSTAH) gegen Menschen vorgegangen, die in der Nähe des Flughafens von Port-au-Prince eine schnellere Verteilung von Lebensmitteln forderten. UN-Sprecher räumten indirekt ein, daß die Besetzung des Flughafens durch US-Truppen tatsächlich die Landung von Maschinen mit Hilfsgütern behindert habe. Wenig später versuchten die dort stationierten US-Marines, die Journalisten aus aller Welt, die am Flughafen ihr Lager aufgeschlagen haben, vom Gelände zu vertreiben. Offenbar ohne vorherige Absprache mit der haitianischen Regierung gaben die US-Offiziere den Journalisten zwei Stunden Zeit, sich einen anderen Ort zu suchen, an dem sie bleiben könnten. Offenbar brauchen die USA den Platz für weitere 4000 Soldaten. Der Marschbefehl nach Haiti sei bereits am Dienstag an eine Flugzeugträgerkampfgruppe und eine Einheit der Marineinfanterie ergangen, teilten die US- Streitkräfte mit. Bis Mittwoch hatten die USA bereits rund 11000 Soldaten in den Karibikstaat entsandt. Venezuelas Präsident Hugo Chávez warf Washington deshalb vor, in Haiti die Macht übernehmen zu wollen. Auch der bolivianische Präsident Evo Morales kritisierte, die US-Soldaten würden die Naturkatastrophe benutzen, um Haiti militärisch zu besetzen.

Hilfsorganisation warnen unterdessen davor, durch überstürzte Adoptionen haitianischer Kinder dem Menschenhandel Vorschub zu leisten. Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF wies darauf hin, daß schon vor dem Erdbeben in Haiti mindestens 50000 Kinder in Kinderkrippen und Heimen untergebracht gewesen seien. Viele dieser Kinder haben laut UNICEF noch Familie und wurden von den Eltern in die Heime geschickt, damit sie dort zu essen bekommen und ein Dach über dem Kopf haben. Kinder aus solchen Einrichtungen würden auch zur Adoption ins Ausland angeboten, berichtet die Hilfsorganisation.

Erschienen am 22. Januar 2010 in der Tageszeitung junge Welt