Trabis am Hühnerposten

[tds_info]jW-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Ost und West erinnern sich an die Zeit rund um den 9. November 1989. Im vierten Teil der Serie blickt André Scheer zurück. Er besuchte damals die Oberstufe einer Gesamtschule in Hamburg. Heute leitet er das Ressort Außenpolitik der jungen Welt.[/tds_info]

In Hamburg war erst am Wochenende danach wirklich spürbar, dass sich am Donnerstag keine hundert Kilometer weiter östlich irgendwas Wichtiges ereignet hatte. Das Boulevardblatt Hamburger Morgenpost titelte zwar am 10. November 1989: »Die Mauer ist weg«, doch erst einen Tag später, am Sonnabend, tuckerten plötzlich unzählige Trabis durch die Hansestadt. Vor allem im Zentrum gab es am Hauptpostamt mit dem schönen Namen »Hühnerposten« ein Verkehrschaos. Dort konnten sich die DDR-Bürger jeweils 100 D-Mark »Begrüßungsgeld« abholen. Die meisten zogen damit dann über den praktischerweise gerade laufenden »Hamburger Dom« – der bekanntlich keine Kirche, sondern ein Volksfest ist – oder die Reeperbahn.

Der »Mauerfall« markierte das Ende einer verdammt kurzen Phase, in der auch in der Bundesrepublik nicht wenige Menschen fasziniert auf die Geschehnisse im Nachbarland schauten. Die DDR hatte in den letzten Oktobertagen gezeigt, dass auch größere Veränderungen in kurzer Zeit möglich sind. Solche Veränderungen erhofften sich viele auch für die nach den bis dahin sechs, sieben Jahren Kohl-Regierung erstarrte BRD. Meine Mutter, eine Krankenschwester, erzählte von Kollegen im Krankenhaus, die sich urplötzlich darüber unterhalten hätten, ob man nicht in die DDR übersiedeln sollte. Und ich selbst hatte in den Tagen zuvor mit offenem Mund die Nachrichten im »Vierten Programm«, wie das DDR-Fernsehen in Hamburg genannt wurde, verfolgt.

Mit dem 9. November 1989 oder kurz danach war das schon wieder vorbei. Aus der »Oktoberrevolution«, wie wir die Ereignisse in der DDR nach dem Rücktritt von Erich Honecker in unserer Schülerzeitung zunächst genannt hatten, wurde deutsch-nationale Hysterie. Wir waren nicht unbedingt Fans der DDR gewesen – aber als »Birne« Kohl plötzlich bejubelt wurde und sich kahlrasierte Faschos auch im Osten ungehindert breitmachen konnten, fanden wir das zum Kotzen. Wir gingen zu den Demos »wider Vereinigung«, selbst wenn diese nicht viel mehr als ein letztes Aufbäumen waren. In Hamburg gingen im Januar 1990 immerhin einige tausend Menschen unter dem Motto »Hände weg von der DDR« auf die Straße, und mit dem Bus fuhren wir im Mai nach Frankfurt am Main zur Demo »Nie wieder Deutschland«, wo dann 20.000 Menschen den Wasserwerfern und Schlagstöcken einer durchgeknallten Polizei trotzten.

Erschienen am 6. November 2019 in der Tageszeitung junge Welt