Theaterdonner

Die Entscheidung des Nationalen Wahlrats (CNE) in Venezuela, die Regionalwahlen Ende des ersten Halbjahres 2017 durchzuführen, hat bei der Opposition des südamerikanischen Landes die vorhersehbare Reaktion ausgelöst: In einer Pressemitteilung empörte sich der »Tisch der demokratischen Einheit« am Dienstag (Ortszeit) über den »Verfassungsbruch«, den die »Verschiebung« der Wahlen um »ein ganzes Semester« darstelle.

Die letzten Regionalwahlen fanden im Dezember 2012 statt, also wäre Dezember 2016 der reguläre Termin für die neue Runde gewesen. Es war aber seit Monaten klar, dass diese Latte gerissen werden würde – und alle Seiten konnten damit gut leben. Das Regierungslager hofft auf eine wirtschaftliche Erholung des Landes in der kommenden Zeit und damit auf ein besseres Ergebnis, als es in den vergangenen Monaten zu erwarten gewesen wäre. Die Opposition ihrerseits hat aus gleich zwei Gründen kein Interesse an Regionalwahlen zum jetzigen Zeitpunkt. Einerseits ist sie damit beschäftigt, das angestrebte Amtsenthebungsreferendum gegen Präsident Nicolás Maduro durchzusetzen. Zwischen dem 26. und 28. Oktober hat sie drei Tage Zeit, die Unterschriften von 20 Prozent der Wahlberechtigten zu sammeln, um die Abstimmung zu erzwingen. Ein Streit um den Termin der Regionalwahlen in den vergangenen Wochen hätte von dieser Kampagne abgelenkt. Zudem bedeuten die Wahlen für das heterogene Bündnis der Regierungsgegner, das nur durch die gemeinsame Feindschaft gegenüber der »Bolivarischen Revolution« zusammengehalten wird, eine ernste Belastungsprobe. Die wenigen populären Spitzenleute der Opposition spekulieren darauf, bei Präsidentschaftswahlen kandidieren zu können und wollen sich nicht »in die Provinz« abschieben lassen. Dort drängeln sich viele Lokalfürsten um die Gouverneursposten, und jede der unzähligen Kleinparteien, die sich dem Bündnis angeschlossen haben, will ihren Anteil an Posten im jeweiligen Regionalparlament und in den Verwaltungen abbekommen.

Der Protest der Opposition gegen den vom CNE vorgestellten Zeitplan kann also getrost als Theaterdonner abgetan werden. Trotzdem führt kein Weg daran vorbei, dass sich die Behörde ohne offizielle Begründung über gesetzliche Vorgaben hinweggesetzt hat. Dieser »pragmatische« Umgang mit Vorschriften ist nichts Neues, sondern in Venezuela seit Jahrzehnten sowohl im Staats- und Verwaltungsapparat als auch in Unternehmen oder im Alltag gängige Praxis. Trotzdem spielt der CNE ein gefährliches Spiel, denn bislang waren die ordnungsgemäß und transparent durchgeführten Wahlen und Abstimmungen eine der großen Stärken des bolivarischen Venezuela gegen die international verbreiteten Parolen von »Diktatur« und »autoritärer Herrschaft«. Wenn sich die Behörde leichtfertig dem Verdacht aussetzt, bei den Wahlen gehe es nicht mehr mit rechten Dingen zu, verliert sie schnell ihre Glaubwürdigkeit und setzt damit letztlich auch die Legitimität aller Amtsträger aufs Spiel.

Erschienen am 20. Oktober 2016 in der Tageszeitung junge Welt