Täter in Uniform

Die Mühlen der chilenischen Justiz mahlen langsam, doch immerhin bewegen sie sich überhaupt. Am Mittwoch (Ortszeit) stellte der Richter Miguel Vázquez Plaza in Santiago de Chile Haftbefehle gegen drei weitere frühere Offiziere der chilenischen Armee aus, die in die Ermordung des populären Protestsängers Víctor Jara vor fast 41 Jahren verwickelt sein sollen.

 

Als am 11. September 1973 die Militärs gegen die demokratisch gewählte Regierung des Sozialisten Salvador Allende putschten, befand sich der damals 40 Jahre alte Jara in der Technischen Staatsuniversität, der Vorläuferin der heutigen Universität von Santiago. Dort wurde er zusammen mit unzähligen Studenten und Professoren von den Militärs verhaftet und in das Chile-Stadion verschleppt, das die Putschisten ebenso wie das Nationalstadion zu einem Gefangenenlager und Folterzentrum gemacht hatten. Jara wurde tagelang mißhandelt. Ihm wurden die Finger abgeschnitten und die Zunge herausgeschnitten – eine Rache der Junta für seine Lieder, die offen Partei für die einfachen Menschen und deren Kampf ergriffen. Am 16. September 1973, fünf Tage nach dem Staatsstreich, wurde Víctor Jara erschossen.

Erst 1990, nach dem Ende der Diktatur, wurde die Ermordung offiziell eingestanden und sein Leichnam aus einer anonymen Grabstätte auf Chiles Nationalfriedhof überführt. Das Stadion, in dem Víctor Jara ermordet wurde, trägt heute seinen Namen. Doch die juristische Aufarbeitung des Verbrechens wurde – wie auch die Verfolgung anderer Morde und Folterungen unter der Diktatur – nur zögerlich angegangen, denn die Militärs hatten sich in der Phase des Übergangs Ende der 80er Jahre wichtigen Einfluß in der neuen Demokratie gesichert. In den ersten Jahren hatten sie durch »Senatoren auf Lebenszeit« und eine überproportional starke Vertretung der Rechten im Kongreß praktisch ein Vetorecht gegen jede »zu gründliche« Aufarbeitung der Diktatur. So wurden im Bericht einer ersten Untersuchungskommission 1991 nur knapp 2300 Opfer von Morden und »Verschwindenlassen« seit dem Putsch anerkannt. Erst 2011 erkannte der Staat insgesamt 40000 Menschen offiziell als Opfer der Diktatur an, unter ihnen 3065 Ermordete und »Verschwundene«. In dieser Zahl noch immer nicht enthalten sind Menschen, die in andere Länder flüchten mußten, oder auch die Angehörigen von Ermordeten und »Verschwundenen«, deren Leben ebenfalls zerstört wurde.

2007 nahm der Richter Juan Eduardo Fuentes Belmar Ermittlungen über die Umstände der Ermordung Víctor Jaras auf. Seither wurden acht frühere Offiziere angeklagt, die entweder selbst die Schüsse auf den Sänger abgegeben haben oder an der Verschleierung des Verbrechens beteiligt gewesen sein sollen. Nun steigt die Zahl der Beschuldigten auf elf. Hernán Chacón und Patricio Vásquez wurden als Täter angeklagt, während Ramón Melo an der Beseitigung der Spuren mitgewirkt haben soll. Die Witwe des Ermordeten, Joan Jara, begrüßt das. »Trotz alledem müssen wir feiern, daß die Untersuchung vorangeht. 41 Jahre danach erfahren wir in einem Gerichtsverfahren, was mit Víctor geschehen ist. Das ist ein großer Fortschritt, ein Meilenstein«, sagte sie bei einer Pressekonferenz in Santiago. Zugleich forderte sie, den seit 1990 unbehelligt in den USA lebenden Pedro Barrientos, der als einer der unmittelbaren Täter gilt, zur Verantwortung zu ziehen. Der damalige Leutnant soll seinen Untergebenen die Ermordung Jaras befohlen sowie selbst mindestens einen Schuß auf ihn abgegeben haben. Er selbst bestreitet das und erklärte, er sei gar nicht im Stadion gewesen und habe damals nicht einmal gewußt, wer Víctor Jara war.

Der Menschenrechtsanwalt Nelson Caucoto würdigte ebenfalls die Entschlossenheit des Richters, die Wahrheit aufzuklären. Das Verfahren habe bereits neue Erkenntnisse gebracht, deren Enthüllung bislang von den chilenischen Streitkräften verweigert worden sei. So habe es die Armeeführung bisher immer abgelehnt, Informationen über die Täter in Uniform herauszugeben.

Erschienen am 5. September 2014 in der Tageszeitung junge Welt