junge Welt, 14.12.2016

Sündenbock verurteilt

In Italien hat das Tribunale di Catania am Dienstag den mutmaßlichen Kapitän eines Schiffs zu 18 Jahren Haft verurteilt, weil er für den Tod von bis zu 900 Flüchtlingen verantwortlich sein soll. Hintergrund ist der Untergang eines mit Schutzsuchenden vollbesetzten Frachters im April 2015, den nur 28 Menschen überlebten. Das Schiff war vor Sizilien in Seenot geraten und mit einem portugiesischen Frachter zusammengestoßen, der zur Hilfe gekommen war. In Folge der Kollision sank das Schiff. Die Richter machten nun den Tunesier Mohammed Ali Malek für den Untergang verantwortlich. Er habe diesen durch fehlerhafte Manöver verursacht. Ein mitangeklagter Syrer wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Die beiden Angeklagten hatten im Prozess abgestritten, zur Besatzung des Schiffs gehört zu haben. Vielmehr seien sie von den eigentlichen »Schleusern« gezwungen worden, das Steuer zu übernehmen. Die Richter glaubten ihnen nicht. Maleks Verteidiger Massimo Ferrante kündigte umgehend Berufung an: »Ich glaube von ganzem Herzen, dass er unschuldig ist.«

Für die Europäische Union kommt das Urteil wie gerufen. Die Katastrophe hatte international für Aufsehen gesorgt. Die EU reagierte damals mit der Entsendung von Kriegsschiffen vor die libysche Küste. Begründet wurde der Militäreinsatz mit der Jagd auf »Schleuser«. Menschenleben wurden so nicht gerettet – die Internationale Organisation für Migration (IOM) bezifferte am Montag die Zahl der 2016 im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge auf mindestens 4.742 – im gesamten Vorjahr starben diesen Angaben zufolge 3.777 Schutzsuchende.

Nun aber hat die Festung Europa von der italienischen Justiz den lange ersehnten Sündenbock geliefert bekommen. Verantwortlich für den Tod der Flüchtlinge ist demnach der Mann, der versucht hat, sie über das Mittelmeer nach Europa zu bringen – und nicht die EU, die den Menschen alle legalen Wege nach Europa verschlossen hat. Das Urteil gegen Mohammed Ali Malek möchte man in Brüssel und Berlin als Freispruch für sich selbst verstanden wissen.

Kein einziger Bürokrat, kein Minister oder Regierungschef hat sich bislang vor Gerichten dafür verantworten müssen, dass EU und NATO in Libyen, Syrien, in Mali, im Irak, in Afghanistan und anderen Ländern die Lage destabilisiert und Konflikte angeheizt haben, dass sie Dschihadisten mit Waffen ausrüsten und Friedensbemühungen hintertreiben. Kein europäischer Konzern ist bislang dafür verurteilt worden, durch das Leerfischen der Gewässer vor den Küsten oder durch »Landgrabbing« Millionen Kleinbauern in Afrika die Existenzgrundlage zu entziehen.

Keine Ermittlungen gibt es bislang auch in dem folgenschwersten Unglück des laufenden Jahres, wie vor einigen Tagen die britische BBC und die Nachrichtenagentur Reuters berichteten. Am 9. April waren rund 500 Flüchtlinge ertrunken, als ihr überladenes Fischerboot auf der Überfahrt nach Italien sank. Weder das Zielland noch Griechenland, wo die Überlebenden ankamen, noch Ägypten, wo das Boot abgelegt hatte, sahen sich zu Ermittlungen veranlasst. »Das öffentliche Desinteresse unterscheidet sich davon, wie die Nationen nach dem Absturz des Egypt-Air-Flugs MS 804 im Mittelmeer am 19. Mai handelten, als 66 Menschen starben. Innerhalb von Stunden nach dem Absturz schickte Ägypten Kriegsschiffe und Flugzeuge der Luftwaffe auf die Suche nach dem Wrack und nach Überlebenden. Frankreich, Britannien und die USA schickten eigene Schiffe und Flugzeuge«, so Reuters am 6. Dezember.

Erschienen am 14. Dezember 2016 in der Tageszeitung junge Welt