Solidarität aus Europa

Seit dem gestrigen Donnerstag sind die Hoheitsgewässer Marokkos für Fischereischiffe aus der Europäischen Union gesperrt. Damit reagierte das Außenministerium in Rabat am Mittwoch abend auf eine wenige Stunden zuvor getroffene Entscheidung des Europaparlaments gegen eine Verlängerung des zwischen der EU und Marokko getroffenen Fischereiabkommens. Das eigentlich bereits am 27. Februar ausgelaufene Abkommen war seither »vorläufig« weiter angewendet worden. Nun lehnten die Abgeordneten mit 326 gegen 296 Stimmen eine von der EU-Kommission beantragte Ausweitung der Geltungsdauer ab.

Rabat kritisierte in einer offiziellen Erklärung, daß die Parlamentarier einen neuen Vertrag gefordert hätten, der »ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltig« sein müsse. Tatsächlich betreibe Marokko jedoch sehr aktiv den Schutz der biologischen Vielfalt des Meeres vor seiner Küste und habe Maßnahmen gegen eine Überfischung getroffen. Nur in einem Nebensatz kritisierte die marokkanische Regierung die Entscheidung der Abgeordneten als »Angriff auf die territoriale Integrität« des Landes.

Tatsächlich aber war die Lage in der von Marokko annektierten Westsahara der zentrale Grund für den Beschluß des Plenums in Strasbourg. Ein neues Abkommen müsse die Interessen der sahrauischen Bevölkerung berücksichtigen, forderten die Parlamentarier. In dem 2006 geschlossenen Abkommen war die Sahara mit keinem Wort erwähnt worden, während ausdrücklich festgestellt wurde, daß die Aktivitäten der Fischereikonzerne den nationalen Gesetzen Marokkos unterliegen. Diese beanspruchen ihre Geltung jedoch auch für das annektierte Gebiet der Westsahara. Menschenrechtsaktivisten aus der Region, wie die international bekannte und erst am 30. November mit dem René-Cassin-Menschenrechtspreis der baskischen Regierung ausgezeichnete Aminatou Haidar, haben immer wieder darauf hingewiesen, daß die Bevölkerung der okkupierten Region nicht von dem Abkommen und den damit verbundenen Millionenzahlungen der EU an Rabat profitiert. Umweltschützer kritisierten die Überfischung der Gewässer und schwerwiegende Folgen für die Umwelt. Der spanische Verfassungsrechtler Carlos Ruiz Miguel bezeichnete das Abkommen am Dienstag sogar als »Bedrohung für die europäische Sicherheit«, weil es den Drogenschmuggel erleichtere.

Die sahrauische Befreiungsbewegung Frente Polisario begrüßte die Entscheidung des Strasbourger Parlaments. Ihr Europavertreter Mohammed Sidati sagte, die Europaparlamentarier hätten ihre Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten und dem Völkerrecht bekräftigt und dem sahrauischen Volk gezeigt, daß es nicht vergessen ist. Die Sprecherin für internationale Beziehungen der Linksfraktion im Bundestag, Sevim Dagdelen, erinnerte jedoch daran, daß die EU-Regierungen zuvor eine Verlängerung des Abkommens angestrebt hätten, obwohl beispielsweise der Juristische Dienst des Europäischen Parlaments auf die Völkerrechtswidrigkeit des Abkommens hingewiesen habe: »Es bleibt der Skandal, daß die Bundesregierung trotz des fehlenden Mehrwerts für die sahrauische Bevölkerung in der völkerrechtswidrig besetzten Westsahara das EU-Fischereiabkommen mit Marokko lückenlos fortsetzen lassen hat. «

Für die Befreiungsfront kommt Marokkos Schlappe zu einem günstigen Zeitpunkt. Am gestrigen Donnerstag eröffnete sie in Tifariti, dem Zentrum der von der Polisario kontrollierten Gebiete der Westsahara, ihren 13. Kongreß unter dem Motto »Ein unabhängiger sahrauischer Staat ist die Lösung«. 2100 Delegierte – darunter 50 aus den von Marokko besetzten Gebieten – und 300 ausländische Gäste wurden zu dieser bis zum kommenden Montag dauernden Konferenz erwartet, die das höchste Organ der Polisario ist, den Statuten zufolge alle drei Jahre stattfinden soll und maximal um ein weiteres Jahr verschoben werden darf. Auf der Tagesordnung stehen auch in diesem Jahr die stagnierenden Vermittlungsbemühungen der UNO um eine Lösung des Konflikts. Die Polisario pocht auf die Durchführung einer seit dem 1991 geschlossenen Waffenstillstand ausstehenden Volksabstimmung über den Status des Gebietes. Während sie die Unabhängigkeit des Landes erreichen will, will Rabat maximal eine Autonomieregelung für das Gebiet zulassen. Vor dem Hintergrund der seit Jahren fruchtlosen Verhandlungen wurde in den vergangenen Monaten in den Reihen der Befreiungsfront auch der Ruf nach einer Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes gegen die Besatzungsmacht laut. Auch die kubanische Nachrichtenagentur Prensa Latina meldete am Donnerstag, der Kongreß könne die »Rückkehr zu alten Formen des Kampfes« beschließen.

Erschienen am 16. Dezember 2011 in der Tageszeitung junge Welt