Signal aus Libyen

Das brutale Vorgehen der ägyptischen Armee gegen die Muslimbrüder hat im Nachbarland Libyen Verunsicherung ausgelöst. Wie die englischsprachige Zeitschrift Libya Herald berichtete, nahmen weder die Regierung noch das Parlament Stellung zur Räumung der Protestcamps in Kairo. Lediglich Sprecher der libyschen Muslimbrüder und deren »Partei für Gerechtigkeit und Wiederaufbau« erklärten, in Ägypten habe sich ein Staatsstreich gegen die rechtmäßig gewählte Regierung vollzogen. Aus Bengasi meldete ein Reporter des Blattes: »Es war schwierig, viele andere zu finden, die den Sturz Mursis verurteilen würden, möglicherweise weil die Bruderschaft in der Stadt zutiefst unbeliebt ist.« Er erinnerte daran, daß erst im vergangenen Monat Hunderte Menschen in Bengasi auf die Straße gegangen seien, um nach der Ermordung eines Rechtsanwalts gegen die Muslimbruderschaft zu demonstrieren, die sie für die jüngste Gewaltwelle verantwortlich machten. Am Samstag griffen Unbekannte das ägyptische Konsulat in der Stadt mit einem Sprengsatz an. Verletzt wurde bei der Attacke allerdings niemand.

 

Auf Internetseiten, die von Unterstützern des 2011 gestürzten und ermordeten Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi betrieben werden, findet sich offene Unterstützung für das Vorgehen des ägyptischen Militärs. So stellte Libia S.O.S., ein spanischsprachiger Informationsdienst, Videos und Fotos ins Netz, die gewaltsame Ausschreitungen der Islamisten in Kairo belegen sollen. Voller Genugtuung heißt es dazu, das Volk und »ein nasseristischer Flügel der Armee« hätten den Muslimbrüdern »die Flügel gestutzt«. Diese seien »die nützlichen Idioten des Westens«, ihre Aufgabe sei die Zerstörung der arabischen Welt.

Eine ähnliche Analyse gibt in einem – vor der blutigen Eskalation geführten – Interview ein namentlich nicht genannter ehemaliger »enger Mitarbeiter« Ghaddafis, der sich derzeit illegal in Spanien aufhalte und an führender Stelle des »grünen Widerstandes« aktiv sei. Carlos Aznárez, der die internationale Zeitschrift Resumen Latinoamericano leitet und als zuverlässiger Chronist gelten kann, zitierte seinen Gesprächspartner am vergangenen Mittwoch mit den Worten, die USA und deren westliche Verbündeten seien eine Allianz mit religiösen Reaktionären eingegangen, um die Linke und die revolutionäre Politik zu zerschlagen. »Deshalb haben die Vereinigten Staaten, aber auch der Westen ganz allgemein, so enge Verbindungen mit der Muslimbruderschaft, die die wichtigste Bewegung in Ägypten, Tunesien, der Türkei und anderen Ländern ist. Sie haben vereinbart, die imperialen Interessen des Westens nicht anzutasten und ihm zu geben, was er will: Erdöl, Sicherheit und die Beibehaltung der Spaltung der Region. Im Gegenzug dürfen diese religiösen Bewegungen die Macht haben und mit ihrer Gesellschaft tun, was sie wollen. Das schließt offensichtlich reaktionäre Gesetze, Frauenunterdrückung, Kampf gegen Kunst und Kultur und gegen linke Politik ein.« Diese Strategie sei in beiderseitigem Interesse und ein Ergebnis aus den Erfahrungen in der Türkei: »Die türkische islamische Bewegung ist gereift und hat den Staat in einer Weise geführt, die den Westen davon überzeugt hat, daß dies eine spezielle Art des Islams ist, der mit dem Imperialismus gemeinsame Sache machen kann.«

Der Sturz Mohammed Mursis in Ägypten habe auch die Libyer ermutigt, gegen die Islamisten und Stammesmilizen auf die Straße zu gehen. Einige hätten schon bei der im Exil gegründeten »Libyschen Nationalen Volksbewegung« nachgefragt, ob sie als Zeichen des Widerstandes die grüne Fahne von Ghaddafis Libyen hissen dürften. Davon habe man abgeraten. Die Machthaber in Libyen würden solche Symbole als Vorwand nehmen, um die Proteste blutig niederzuschlagen. Derzeit sei ein offener Aufstand gegen die neuen Herren Libyens nicht möglich, weil in einem solchen Fall erneut die NATO eingreifen würde.

Bereits der vergangene Juli sei in Libyen der bislang blutigste Monat seit dem Ende des Krieges gewesen, berichtete die Jamahiriya News Agency, ein ebenfalls in der Ghaddafi-Tradition stehendes Internetportal. Allein in Bengasi und Dera seien in vier Wochen 51 Menschen ermordet worden, zitiert das Onlinemagazin die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Gegen diese Anschläge, die von den Sicherheitsbehörden praktisch nicht verfolgt werden, rührt sich Widerstand. Wie die in Kairo erscheinende Al-Ahram ebenfalls im Juli berichtete, haben junge Libyer nach dem Beispiel der ägyptischen »Tamarod«, deren Massenaktionen zum Sturz Mursis geführt hatten, eine eigene Kampagne »Rafd« ins Leben gerufen. Diese hat dem Allgemeinen Nationalkongreß, dem libyschen Parlament, eine Frist bis Ende des Jahres gesetzt, die »Interimsphase« in Libyen zu beenden. Sonst werde das Volk auf die Straße gehen, »um die Volksmacht wiederherzustellen«, wie der Gründer der Bewegung, Nasser Al-Hawari, gegenüber Al-Ahram, erklärte.

Erschienen am 19. August 2013 in der Tageszeitung junge Welt