Sieg für die Massen

Das Wahlergebnis in Venezuela ist keine Überraschung. Zahlreiche Meinungsforschungsinstitute hatten in den vergangenen Wochen und Monaten vorhergesagt, daß sich Amtsinhaber Hugo Chávez mit mehr als zehn Prozentpunkten Vorsprung gegen den oppositionellen Herausforderer Henrique Capriles Radonski durchsetzen würde. Der Vorsprung von Chávez blieb auch während des gesamten Wahlkampfs weitgehend konstant. Trotzdem gelang es den Regierungsgegnern, ihnen nahestehenden Medien in Venezuela und internationalen Medienkonzernen und Nachrichtenagenturen, den Eindruck eines »Kopf-an-Kopf-Rennens« zu erwecken. Noch am Sonntag schrieben deutsche Medien vom »letzten Kampf des Comandante«, der vom »jungen« Capriles geschlagen werden könnte.

Das venezolanische Volk hat es ihnen gezeigt. Während in den sich ach so demokratisch dünkenden Staaten Europas oder in den USA die Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen immer weiter zurückgeht, verzeichnete Venezuela eine Rekordbeteiligung von mehr als 80 Prozent.

Die Wählerinnen und Wähler des südamerikanischen Landes wollen nicht, daß Venezuela zurückgeworfen wird in Zeiten, in denen es nicht viel mehr als Rohstofflieferant für die USA war, in denen es sich eine kleine Oberschicht gut gehen ließ, während die Mehrheit hungerte und im Elend hauste. Sie haben erkannt, daß sie inzwischen viel zu verlieren haben: kostenfreie medizinische Versorgung, kostenfreie Bildungsprogramme, Infrastrukturprogramme im Interesse der einfachen Menschen, internationale Kooperation mit den Nachbarländern.

Auch ein Großteil der venezolanischen Mittelschicht, die ideologisch mit dem Ziel einer sozialistischen Gesellschaft wenig anfangen kann, hat erkannt, daß Chávez inzwischen sogar für »konservative« Werte wie Stabilität und Ordnung steht. Hätte sich Henrique Capriles Radonski durchgesetzt, wäre es mit ziemlicher Sicherheit zu Unruhen gekommen. Im Wahlkampf war sein geheimes Wirtschaftsprogramm bekanntgeworden: Privatisierungen, Aufkündigung der internationalen Partnerschaften. Die Menschen hätten sich jedoch die Errungenschaften ihrer Bolivarischen Revolution nicht widerstandslos nehmen lassen. Venezuela wäre zurückgeworfen worden in Zeiten des »Caracazo«, des blutig niedergeschlagenen Volksaufstandes von 1989.

Doch richtig ist auch: Die Opposition hat im Vergleich zu 2004 oder 2006 Boden gegenüber der Regierung gutgemacht. Ein Grund dafür ist die weitverbreitete Unzufriedenheit mit Korruption und Ineffizienz des Staatsapparats, die es zwar auch schon vor Chávez gab, die aber inzwischen – und nach 13 Jahren: mit Recht – dem Amtsinhaber angelastet werden. Es wird darauf ankommen, daß es der bolivarischen Bewegung endlich gelingt, diesen »schlimmsten Feind in unseren eigenen Reihen« (Chávez) tatsächlich zurückzudrängen. Die Voraussetzung dafür – eine Fortsetzung des von Hugo Chávez geführten revolutionären Prozesses – haben die Venezolanerinnen und Venezolaner am Sonntag geschaffen.

Erschienen am 9. Oktober 2012 in der Tageszeitung junge Welt