junge Welt, 11. Oktober 2013

»Schleift die Festung Europa!«

junge Welt, 11. Oktober 2013Mehr als zwei Dutzend Schriftsteller und Künstler haben sich am Donnerstag mit einem Aufruf unter der Überschrift »Tear down this wall! Schleift die Festung Europa!« an die Öffentlichkeit gewandt. Allein in diesem Jahr seien bislang mindestens 460 Menschen bei dem Versuch ums Leben gekommen, die Südgrenze Europas zu überwinden. »Die Flüchtlinge fliehen aus Staaten, in denen Willkür, Gewalt und Unterdrückung herrschen, sie fliehen aus Ländern, deren staatliche Integrität zerschlagen wurde, aus Bürgerkriegsgebieten und Diktaturen. Sie fliehen vor Hunger, Not und Armut. Sie fliehen aus Regionen, in denen der europäische Kolonialismus geherrscht hat, und sie fliehen vor den Nachwirkungen dieses Kolonialismus ebenso wie vor den Resultaten aktueller Interventionspolitik«, heißt es in dem Aufruf, den unter anderem Manfred Wekwerth, Peggy Parnass, Carmen Maja Antoni, André Heller und Konstantin Wecker unterzeichnet haben. »Unsere koloniale Geschichte, deren Früchte noch immer Teil des europäischen Reichtums sind, verlangen von uns Demut und nicht chauvinistische Abschottung.«

 

Am gleichen Tag verabschiedete das Europäische Parlament in Brüssel mit 479 gegen 101 Stimmen die Betriebsvorschriften für das neue Grenzkontrollsystem »Eurosur«. Mit Satelliten und Drohnen macht die EU künftig Jagd auf Menschen, die versuchen, europäisches Festland zu erreichen. Wie es in der offiziellen Pressemitteilung des Parlaments heißt, ist »Eurosur« ein Kommunikationsnetzwerk, »das die Erkennung, Vermeidung und Bekämpfung der illegalen Einwanderung und grenzüberschreitenden Kriminalität verbessern« soll. Über das System können die EU-Staaten in Echtzeit Bilder und Daten von ihren Außengrenzen an Einsatzzentralen übertragen. So können die Grenzschutztruppen der EU gezielt Jagd auf die Flüchtlinge machen.

Der Berichterstatter der für die Vorbereitung des Antrags zuständigen Kommission, Jan Mulder von der rechtsliberalen niederländischen VVD, bemühte sich, den Beschluß als Hilfe für die flüchtenden Menschen zu verkaufen: »Nur mit einem europaweiten Grenzüberwachungssystem können wir verhindern, daß das Mittelmeer ein Friedhof für Flüchtlinge wird, die es in seeuntüchtigen kleinen Booten auf der Suche nach einem besseren Leben in Europa zu überqueren versuchen.« In einer Vereinbarung zwischen dem Parlament und den EU-Staaten wird »Big Brother« ebenfalls kosmetisch aufgehübscht. Bei der Verwendung von »Eurosur« müssen die EU-Länder demnach »die Menschenrechte achten«. Jeder Austausch von personenbezogenen Daten via »Eurosur« müsse eine Ausnahme bleiben.

Für die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Ulla Jelpke, ist dennoch klar: »Oberstes Ziel des Seeüberwachungssystems Eurosur ist und bleibt die Abschottung gegen Flüchtlinge.« Die Behauptung von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und der EU-Kommission, das System diene der Verbesserung der Seenotrettung, werde auch durch ständige Wiederholung nicht richtig. »Das Gegenteil ist der Fall. Durch die technische Hochrüstung der Seeüberwachung mit Satelliten und Überwachungsdrohnen und die verstärkte Koordination der EU-Staaten durch die Grenzschutzagentur FRONTEX werden die Flüchtlinge in noch kleinere und gefährlichere Boote getrieben. Das namenlose Sterben vor den Grenzen der EU wird weitergehen wie bisher.« Anne Helm von der Piratenpartei fordert einen Stopp des EU-Überwachungsprojekts. »Euro­sur« sei »eine finanzielle, technische, menschenrechtliche und politische Katastrophe«, so die Politikerin. Es »rettet keine Flüchtlinge, sondern hilft dabei, Menschen auf der Flucht frühzeitig abzufangen und sie wieder in die für sie oft lebensbedrohlichen Umstände abzuschieben.« Der DKP-Vorsitzende Patrik Köbele weist ebenfalls den Versuch zurück, »Eurosur« als quasi humanitäre Hilfeleistung zu präsentieren: »Das System dient der weiteren hermetischen Abschottung Europas gegen Menschen, die durch die Schuld des deutschen und europäischen Kapitals in die Flucht getrieben wurden. Die Festung Europa muß geschleift werden!«

Erschienen am 11. Oktober 2013 in der Tageszeitung junge Welt