Schätze gehören dem Volk

In New York ziehen die Vereinten Nationen derzeit eine Zwischenbilanz des Weges zur Umsetzung der vor zehn Jahren am selben Ort beschlossenen »Millenniumsziele«. Dem damals aus Anlaß des Jahrtausendwechsels vereinbarten Programm zufolge sollen bis 2015 unter anderem die weltweite Armut halbiert und allen Kindern der Grundschulbesuch ermöglicht werden. Dazu hatten sich die Industriestaaten damals verpflichtet, ihr Budget für die Entwicklungshilfe bis 2015 auf 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) anzuheben. Die deutsche Bundesregierung hatte ursprünglich für 2010 angekündigt, als Zwischenziel 0,51 Prozent für die sogenannten Entwicklungsländer zur Verfügung stellen. Tatsächlich liegt die Hilfe aus Deutschland derzeit bei 0,35 Prozent und ist in den vergangenen Jahren sogar noch zurückgegangen. »Wortbruch« warf deshalb am Dienstag der Grünen-Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin gegenüber der Nachrichtenagentur DAPD Bundeskanzlerin Angela Merkel vor. Schon jetzt klaffe eine Lücke von einer halben Milliarde Euro zum vereinbarten Zwischenziel, »und das Loch wird jedes Jahr größer«. Auch der Linke-Politiker Niema Movassat kritisierte, daß Merkel und Entwicklungsminister Dirk Niebel in New York »herumschwadronierten« und sich davor drückten, »ihre internationalen Zusagen einzuhalten, obwohl jeden Tag Tausende Menschen am fehlenden politischen Willen zur effektiven Armutsbekämpfung sterben«.

Während Niebel im Deutschlandfunk einräumte, man sei momentan »nicht im Plan«, kritisierte Boliviens Präsident Evo Morales am Montag (Ortszeit) bei seiner Ansprache vor dem UN-Plenum dieses ohnehin bescheidene Ziel grundsätzlich. Es sei »nicht gerecht, daß die entwickelten Länder gerade einmal 0,7 Prozent ihres BIP in Hilfsprogramme für die Entwicklungsländer investieren, wenn sie 15mal mehr Ressourcen in Aufrüstung und das Schüren von Kriegen stecken.« Die extreme Armut könne niemals besiegt werden, wenn nicht die ungerechte Reichtumsverteilung auf der Erde überwunden werde, so Morales. Zwar habe die Weltbank begonnen, ihre Schwerpunktsetzung zu verändern, nicht jedoch der Internationale Währungsfonds. Es müsse deshalb darum gehen, die Abhängigkeit der Entwicklungsländer von IWF und Weltbank zu überwinden. Dazu schlug er die Schaffung einer Bank des Südens durch die Entwicklungsländer aller Kontinente vor, die unter der Armut leiden. »Statt unsere Währungsreserven bei Banken der entwickelten Länder zu deponieren, ist es besser, eine eigene Finanzinstitution zu schaffen, die diese Ressourcen verwaltet«, so Morales. Mit einem ähnlichen Ziel hatten sieben südamerikanische Länder vor einem Jahr in Buenos Aires bereits eine Bank mit gleichem Namen und gleichem Ziel offiziell konstituiert.

»Ohne den IWF und dessen Wirtschaftsrezepte fährt Bolivien besser als zuvor«, unterstrich der Staatschef. So habe sein Land die extreme Armut in den vergangenen Jahren von 41 auf 32 Prozent der Bevölkerung reduzieren können, die Kindersterblichkeit sei um 40 Prozent gesunken. Dies sei nur durch die zusätzlichen Einnahmen möglich gewesen, die sich aus der Nationalisierung der Bodenschätze Boliviens ergeben hätten und die direkt an die Bevölkerung weitergeleitet wurden. Deshalb sei es wichtig, daß alle Entwicklungsländer ihre Bodenschätze selbst kontrollieren, um deren Ausbeutung durch fremde Interessen zu verhindern. »Es ist notwendig, die Wirtschaft zu demokratisieren und das Volk zum wichtigsten Profiteur der Entwicklung zu machen«, forderte er. Lebenswichtige Dienstleistungen wie die Trinkwasser- und Energieversorgung seien Menschenrechte, die nicht den Regeln privater Geschäftemacherei unterworfen werden dürften.

Im Gegensatz zu Morales haben die meisten linken Staatschefs der Re­gion ihre Teilnahme an dem UN-Gipfel abgesagt. Venezuelas Präsident Hugo Chávez konzentriert sich lieber auf die Kampagne im Vorfeld der Parlamentswahl am kommenden Sonntag. Ecuadors Staatschef Rafael Correa mußte sich am Montag einem chirurgischen Eingriff unterziehen, und auch Nicaraguas Daniel Ortega sowie der kubanische Präsident Raúl Castro lassen sich durch ihre Außenminister vertreten.

Erschienen am 22. September 2010 in der Tageszeitung junge Welt