»Wir wollen Unabhängigkeit!«

Venezuela begeht am 5. Juli 2011 den 200. Jahrestag der Unterzeichnung seiner Unabhängigkeitserklärung. Der Präsident des Landes, Hugo Chávez, erinnerte deshalb in seinem jährlichen Rechenschaftsbericht vor dem Parlament an die heftigen Diskussionen, die der damaligen Entscheidung in der „Patriotischen Gesellschaft“ vorausgingen. Manchen erschien die Ausrufung der Unabhängigkeit verfrüht, andere fürchteten sich vor der Reaktion der spanischen Kolonialmacht. Doch letztlich setzte sich der radikale Flügel dieser Bewegung durch. Ihr wichtigster Vertreter, Simón Bolívar, rief damals aus: „Setzen wir den Grundstein der südamerikanischen Freiheit, denn Schwanken bedeutet Verlieren!“ Diese Diskussion sei auch heute noch aktuell, so der venezolanische Präsident am 15. Januar in seiner siebenstündigen Ansprache: „Ein unabhängiges Heimatland oder eine Kolonie, diese Diskussion ist noch immer lebendig. Wir wollen die Unabhängigkeit“, rief er aus, und wandte sich damit indirekt an die Abgeordneten der Opposition, die erstmals seit Jahren wieder in relevanter Zahl im Parlament vertreten sind. Nach den Wahlen im September hatte sich die Nationalversammlung Anfang Januar zu ihrer neuen Legislaturperiode konstituiert. Im neuen Parlament stellt die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) 97 Abgeordnete, die mit ihr verbündete Kommunistische Partei (PCV) ist mit einem Abgeordneten vertreten. Ihnen stehen 65 Vertreter der Opposition gegenüber.

Letztere vertreten auch nach Auffassung der venezolanischen Kommunisten nicht die Interessen Venezuelas, sondern die anderer Mächte. „Wenn der Hauptfeind der venezolanischen Nation der Imperialismus ist, dann besteht der Widerspruch zwischen uns, die objektiv die Interessen des Heimatlandes vertreten, und jenen, die objektiv auf der Seite der Interessen des Imperialismus stehen“, heißt es dazu in einem Leitartikel ihrer Parteizeitung „Tribuna Popular“. Das habe auch nichts damit zu tun, wer gerade Präsident der Republik sei, „selbst wenn es ein so bedeutender Anführer der revolutionären und antiimperialistischen Kräfte wie Hugo Chávez ist“. Die von vielen in Venezuela beklagte „Polarisierung“ hänge nicht von einem Menschen ab, sondern sei die Folge des welthistorischen Prozesses der kapitalistischen Entwicklung bis zum Imperialismus.

Auf diesem Weg hat Venezuela einiges erreicht, wie Chávez in seinem Bericht stolz hervorhob. So hätten zum Zeitpunkt seines Amtsantritts 49 Prozent aller Haushalte in dem südamerikanischen Land als arm gegolten, heute ist diese Zahl auf 26,8 Prozent gesunken. „Wir sind noch weit vom Ziel entfernt, denn das Ziel muss Null sein. Es darf in Venezuela keine armen Haushalte geben“, räumte Chávez ein. Auch mit Blick auf die extreme Armut zeigte er sich mit den Erfolgen unzufrieden, obwohl diese von 21 Prozent im Jahr 1999 auf 7,1 Prozent im ersten Halbjahr 2010 gesunken sei. Der Rückgang der Armut habe sich in den letzten Jahren verlangsamt, kritisierte Chávez. Das sei besorgniserregend. Man müsse die Kräfte verstärken, um die gegenwärtige Armut, die wie ein Fels auf der Gesellschaft laste, beiseite zu räumen. Scharf ging Chávez auch mit dem Missbrauch der Meinungsfreiheit ins Gericht. Vor allem einige Fernsehsender verhielten sich verantwortungslos, kritisierte der Präsident, und erinnerte daran, dass vor allem eine Reihe der auch in Venezuela äußerst populären Telenovelas voll frauenverachtender Inhalte seien. Speziell wies Chávez jedoch auf die Dating-Show „12 corazones“ hin, bei der Frauen als Objekt missbraucht würden. Die Regierung habe hier eingreifen müssen, weil der Privatsender Televen diese Show im Nachmittagsprogramm ausgestrahlt und damit auch gegen die Jugendschutzgesetze verstoßen habe. Zum Glück habe der Chef des Kanals, der die Sendung nach eigenem Bekunden nie selbst gesehen habe, die Show nach einem Anruf aus dem Programm genommen.

Auf einer völlig anderen Ebene fühlen sich viele venezolanische Frauen derzeit missbraucht, wenn sie von einer in Deutschland laufenden Werbekampagne für eine „Weltfrauenkonferenz“ in Venezuela erfahren. Langjährige Aktivistinnen der venezolanischen Frauenbewegung haben von dieser Veranstaltung, die den Ankündigungen zufolge vom 4. bis 8. März herum stattfinden soll, bislang nichts gehört, und auch die als Gastgeberin auftretende „Frauenbewegung Ana Soto“ ist ihnen unbekannt. Auf die per EMail geäußerte Bitte um Informationen zu der geplanten Konferenz und zum Stand der Mobilisierung in Venezuela antwortete die Gruppe nur mit einem Verweis auf ihren Internetblog. Aus den Einträgen hier, die etwa alle zwei Wochen erneuert werden, geht darüber jedoch nichts hervor. Auch im venezolanischen Frauenministerium fühlt sich bislang niemand in der Lage, Auskunft über die Veranstaltung zu geben. Die der Kommunistischen Partei nahestehende „Frauenbewegung Clara Zetkin“ weiß ebenfalls von nichts.

So verdichtet sich der Eindruck, dass es sich bei dieser „Weltkonferenz der Basisfrauen“ eher um eine Propagandashow handelt, die in Deutschland ausgetüftelt wurde. Dafür spricht auch, dass die offizielle Homepage der Veranstaltung nahezu ausschließlich in deutscher Sprache gehalten ist. Auch die spanischsprachigen Teile der Seite wurden offenbar von Autorinnen verfasst, die Spanisch nicht als Muttersprache haben, was für eine Großveranstaltung in einem spanischsprachigen Land doch recht ungewöhnlich ist. Aus ganz Südamerika werden auf der Homepage ganze acht Unterstützerinnen für den Aufruf genannt, während sich aus Deutschland unzählige Frauen in die Liste eingetragen haben. Die meisten von denen, die zu ihrem Namen eine Organisationszugehörigkeit angegeben haben, gehören zum Umfeld der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD). Zufall? Wohl kaum, denn von fünf auf der Homepage dokumentierten internationalen Vorbereitungstreffen fanden drei in Deutschland statt – am Rande eines vom MLPD-Jugendverband „Rebell“ organisierten „Pfingstjugendtreffens“ oder eines ebenfalls von den Maoisten organisierten „Kämpferischen Frauenratschlags“. Nur ein Treffen tagte demnach in Venezuela, für ein weiteres wurde nach Südkurdistan eingeladen – wobei es sich um das Regionaltreffen für den Mittleren Osten handelte.

Erschienen am 28. Januar 2011 in der Wochenzeitung Unsere Zeit