»Venezuela darf in Kolumbien kein Kriegsteilnehmer werden«

Künstler engagieren sich für die Freilassung des inhaftierten FARC-Sängers Julián Conrado. Ein Gespräch mit Ali Manaure. Ali Manaure ist Volkssänger in Caracas und Mitglied der Künstlervereinigung »Frente de Creadores Militantes«

Sie haben eine Kampagne gegen die Auslieferung des in Venezuela festgenommenen mutmaßlichen FARC-Mitglieds Julián Conrado initiiert. Warum?

Julián Conrado ist die aufständische Stimme des kolumbianischen Volkes, dem innerhalb der demokratischen Welt alle Türen verschlossen werden, es ist von Verfolgung, Ermordungen und Massakern bedroht. Wir erinnern an den Fall der Patriotischen Union, deren Mitglieder zu Tausenden ermordet wurden, oder an die erst kürzlich entdeckten Massengräber in La Macarena, für die der gegenwärtige Präsident Kolumbiens direkt verantwortlich ist. Deshalb haben wir als Künstler und im Kulturbereich aktive Menschen, vor allem als revolutionäre Sänger, unsere Stimme gegen die drohende Auslieferung des Genossen Julián Conrado erhoben. Mit seinen Versen und seiner Gitarre klagt er den Irrweg des kapitalistischen Systems an, das ein System der Ausbeutung und Entfremdung des Menschen ist.

In der Vergangenheit bezeichnete Venezuelas Präsident Hugo Chávez die FARC als »Aufständische und keine Terroristen«. Er empfing Vertreter der Guerilla im Präsidentenpalast Miraflores. Nun liefert er Aktivisten dieser kolumbianischen Organisationen an Bogotá aus. Wie erklären Sie sich diese veränderte Haltung?

Dem Imperialismus solche Zugeständnisse zu machen, wird die demokratischen und Volksbewegungen in keiner Weise voranbringen. Wer glaubt, daß uns der Imperialismus auf diese Weise das Verbrechen verzeihen wird, daß wir in unserem Land die größten Erdölreserven der Welt besitzen, ist entweder naiv oder verwirrt. Oder aber er ist entschlossen, die Richtung seines Weges zu ändern. Wir gehen davon aus, daß »staatspolitische Gründe«, mit denen die kapitalistischen Regierungen jede Art von Ungerechtigkeiten rechtfertigen, niemals über die Interessen der Menschheit und das Leben gestellt werden dürfen, also auch nicht über die revolutionären Prinzipien. Das gilt noch mehr für eine Regierung, die das Banner des Sozialismus in der Welt wieder aufgerichtet hat.

Wir setzen uns für eine wirkliche Revolution ein und stehen zur Führungsrolle des Comandante Chávez. Das schließt aber die Möglichkeit revolutionärer Kritik nicht aus.

Sie kritisieren, daß die venezolanische Regierung mit diesen Auslieferungen die eigenen Gesetze einschließlich der Verfassung verletzt. Woran machen Sie das konkret fest?

Im Fall von Julián Conrado wie auch im Fall des Ende April ausgelieferten Journalisten Joaquín Pérez wurde speziell der Artikel 44 unserer Verfassung gebrochen, der Festgenommenen unter anderem garantiert, sich umgehend mit einem Rechtsanwalt in Verbindung zu setzen. Auch mehrere internationale Abkommen wurden gebrochen. Aber vor allem wurden poltische Grundsätze verletzt. Venezuela stand für die Schaffung des Friedens in Kolumbien, nun verwandelt es sich in einen Verfolger von Revolutionären und übernimmt den Diskurs des Imperialismus, indem es die wirklichen Revolutionäre als »Terroristen« und »Drogenschmuggler« bezeichnet.

Die Internetausgabe der kommunistischen Wochenzeitung Tribuna Popular hat gewarnt, Venezuela habe »aufgehört, ein sicherer Ort für die Kämpfer des Volkes zu sein«. Teilen Sie diese Einschätzung?

Diese Einschätzung teilen wir voll und ganz. Venezuela muß verhindern, zu einem Teilnehmer des Krieges in Kolumbien zu werden. Wir müssen das sein, was wir gewesen sind: eine Basis des Friedens, der Solidarität, des humanitären Gefangenenaustauschs, der Verhandlungen – und nicht ein Ort der Verfolgung von bolivarischen Revolutionären.

Wie könnten Präsident Chávez und die venezolanische Regierung Ihr Vertrauen zurückgewinnen?

Der beste Weg wäre die Freilassung von Julián. Wir glauben zutiefst an die Kraft des Volkes, das den Veränderungsprozeß begleitet. Venezuela muß den im Kampf gegen den Großgrundbesitz ermordeten mehr als 260 Bauernführern Gerechtigkeit widerfahren lassen, die Banner des Friedens wieder aufnehmen und zum Vertrauen in die Volksmacht zurückkehren. Die Regierung stellt sich nur dann an die Seite des Volkes, das die sozialistische Revolution aufbaut, wenn sie sich nicht vor dem fürchtet, was die Feinde des Volkes oder der Imperialismus sagen. Diese werden niemals die Bolivarische Revolution und Hugo Chávez akzeptieren.

Erschienen am 7. Juni 2011 in der Tageszeitung junge Welt