»Unsere Lieder sind hochpolitisch«

Gespräch mit Cecilia Todd. Über ihre Freundschaft mit Mercedes Sosa und Ali Primera, die Faszination des Cuatro und die neuen Perspektiven Lateinamerikas

Cecilia Todd (geb. 1951) ist Sängerin und Schauspielerin. Seit Beginn der 70er Jahre gilt sie als wichtige Interpretin der traditionellen Musik Venezuelas.


Als Sie kürzlich in Berlin ein Konzert gaben, wurde dies von allen Botschaften der Mitgliedsstaaten der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA) veranstaltet. Was bedeutet für Sie als Künstlerin die wachsende Zusammenarbeit im Rahmen dieses Bündnisses?

ALBA entwickelt sich, Stück für Stück. Wir beginnen auf allen Ebenen, und für mich besonders wichtig sind die entstehenden Verbindungen innerhalb Lateinamerikas und natürlich besonders zwischen den ALBA-Ländern. Es hat schon viele Treffen gegeben, um sich auszutauschen, und ich gehe davon aus, daß dieser Austausch mit der Zeit immer stärker werden wird. In Lateinamerika haben die Dinge begonnen, sich zu bewegen.

Welche Auswirkungen könnte diese wachsende Zusammenarbeit im Bereich der Kultur haben?

Für den kulturellen Bereich ist diese wachsende Einheit sehr wichtig. Man mag es ja kaum glauben, aber die Länder Lateinamerikas waren bislang sehr zersplittert und isoliert, jedes blieb für sich. Obwohl wir Nachbarn und uns in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich sind, haben sich die Völker untereinander nicht gekannt. Ich glaube, unsere Kultur kennenzulernen und uns auszutauschen ist sehr wichtig für Veränderungen jeder Art. Wir müssen damit beginnen, die Grenzen einzureißen und das große Heimatland aufzubauen, von dem Simón Bolívar so sehr geträumt hat. Ich glaube, wir haben einen Zeitpunkt erreicht, an dem dies möglich ist, und die Kultur – vor allem die Musik – ist ein sehr direkter Weg zu diesem Ziel.

Trotz der Isolation der lateinamerikanischen Staaten untereinander haben Sie lange Zeit in anderen Ländern gelebt, zum Beispiel in den 70er Jahren in Argentinien. Das war ja eine dramatische Zeit für dieses südamerikanische Land…

Ich bin im Juni 1973 nach Argentinien gekommen, und zwar am gleichen Tag, an dem auch Juan Domingo Perón nach Argentinien zurückkehrte und Präsident wurde. Ich kam also in einem sehr bewegten Augenblick in das Land und bin dann drei Jahre in Argentinien geblieben, und gerade in dem Monat nach Venezuela zurückgekehrt, als der Putsch gegen Isabelita (Perón) verübt wurde. Ich habe dort also eine sehr heftige, sehr harte Zeit erlebt. Aber für mich war sie sehr wichtig. Ich kam nach Argentinien, um zu studieren, und ich konnte dort auch meine erste Schallplatte aufnehmen, aber vor allem war es für mich eine Zeit der persönlichen Reife, denn ich habe sehr viele, intensive Dinge erlebt, angefangen mit der Ankunft und später dem Tod Peróns 1974. Auch den Putsch im Nachbarland Chile am 11. September 1973 erlebten wir in Buenos Aires sehr intensiv. Diese Dinge haben mich natürlich ebenso bewegt wie alle Welt, aber ich entdeckte dadurch auch, daß ich in Venezuela in einer anderen Realität gelebt hatte. So habe ich mich in dieser Zeit persönlich, beruflich und musikalisch sehr stark entwickelt.

Damals habe ich auch das Uruguay der Militärdiktatur kennengelernt, und es nahm mich sehr mit zu erleben, wie die Menschen dort niemandem vertrauten, mit niemandem redeten. Wenn man dort damals jemanden angesprochen hatte, um ihn nach einem Weg oder einer Adresse zu fragen, gab es sofort eine Abwehrhaltung. Es war offensichtlich, daß sich die Menschen gegen etwas verteidigen mußten.

Heute ist das völlig anders, heute sehen wir das Licht am Ende des Tunnels, es wird heller. Es ist die Zeit gekommen, uns alle bei den Händen zu nehmen.

War es in dieser Zeit, als Sie Mercedes Sosa kennenlernten?

Nein, Mercedes habe ich schon vorher, schon in Venezuela kennengelernt, als sie 1972 zum ersten Mal in unserem Land war. Aber das Buenos Aires dieser Zeit war ein Zentrum der Kultur, und die lateinamerikanische Musik erlebte eine Glanzzeit. Dort gab es Mercedes Sosa, es gab Atahualpa Yupanqui und den Einfluß der Chilenen wie Victor Jara oder Inti Illimani. Sie haben mich in gewisser Weise dazu gebracht, nach Buenos Aires zu gehen, denn eigentlich war Brasilien mein Ziel. Dank Mercedes habe ich meine Pläne geändert und bin nach Argentinien gegangen, und Mercedes hat mir damals sehr geholfen. Wir standen uns sehr nahe, sie und ihr Ehemann haben mir sehr geholfen. Wir waren immer zusammen, gingen gemeinsam zu den Konzerten. Das war eine Freundschaft, von der ich heute noch zehre.

Was ist Ihre wichtigste Erinnerung an Mercedes Sosa?

Mercedes’ Großzügigkeit. Bevor ich sie selbst kannte, kannte ich schon ihre Musik. Ich habe sie vom ersten Lied an bewundert, das ich von ihr gehört habe. Später hatte ich dann einen sehr engen, praktisch familiären Kontakt zu ihr. Sie öffnete mir die Tür ihres Hauses, ihr Herz. Allen Künstlern gegenüber war sie sehr großzügig, sie reichte allen die Hand, wann immer es nötig war. Bei praktisch jedem Konzert war jemand mit ihr auf der Bühne, bekannte Leute oder auch solche, die noch niemand kannte. Sie hat immer anderen Künstlern geholfen, wirklich immer. Deshalb glaube ich, daß die Großzügigkeit einer ihrer wichtigsten Charakterzüge war.

Bei Ihrem Auftritt im November in Berlin haben Sie Mercedes Sosa ein Lied gewidmet und sie »die größte Sängerin aller Zeiten« genannt. Was wird von ihr bleiben?

Davon abgesehen, daß ihre Stimme die schönste und ausdruckskräftigste Lateinamerikas und vielleicht der ganzen Welt war, war Mercedes auch deshalb ein Beispiel für alle, weil sie sich nicht nur den Liedern gewidmet hat, sondern eine politische Aktivistin war, eine Kämpferin für das Leben. Sie hat vielen Menschen geholfen, und ich denke, daß dies etwas ist, was bleibende Bedeutung hat.

Kehren wir nach Venezuela zurück. Ein weiterer Freund von Ihnen war der große venezolanische Volkssänger Ali Primera (1942–1985).

Er war eine wunderbare Persönlichkeit. Als er begann zu singen, und dadurch berühmt wurde, lebte ich schon nicht mehr in Venezuela, sondern in Buenos Aires. Ich lernte ihn nach meiner Rückkehr 1976 kennen. Ich kann mich erinnern, daß wir in einer großen Gruppe auf dem Boden saßen, und er kam auf mich zu und begrüßte mich: Cecilia! Als wenn wir uns schon unser ganzes Leben lang kennen würden. Mich hat vor allem seine Verläßlichkeit sehr beeindruckt. Es gab bei ihm keinen Unterschied zwischen seinem Denken und seinem Leben. Andere Leute sagen eine Sache und tun eine andere, aber er war sehr aktiv, fühlte sich sehr verpflichtet. Auch er half allen Menschen und war überall beliebt. Man konnte kaum mit ihm auf die Straße gehen, weil immer irgend jemand auf ihn zukam. Er behandelte jeden, als wären sie schon das ganze Leben lang Freunde.

Heute sind die Lieder von Ali Primera in Venezuela allgegenwärtig. Präsident Chávez singt sie, manchmal kann man sie in der Metro hören. Was würde Ali darüber denken?

Als jemand, der ihn sehr gut kannte, bin ich überzeugt davon, daß er heute, in dieser Situation, ganz aktiv dabei wäre, und er hätte ganz bestimmt Lieder über diese Bewegung geschrieben, die wir heute erleben. Er wäre wirklich glücklich.

Bei Ihren Konzerten ist das Cuatro Ihr bevorzugtes Instrument. Gibt es dafür einen bestimmten Grund, oder ist das reiner Zufall?

Das Cuatro ist Bestandteil jeder venezolanischen Familie und begleitet jede Form venezolanischer Musik. Ich war das jüngste von sechs Geschwistern, und als ich aufgewachsen bin, gab es immer irgendwo ein Cuatro. Meine Geschwister spielten dieses Instrument. Schon als ganz kleines Mädchen habe ich ihnen das abgeguckt, es ihnen nachgemacht und gelernt, dieses Instrument zu spielen. Seit ich vier Jahre alt war, spiele ich Cuatro. Deshalb ist das kein Musikinstrument mehr, sondern schon ein weiteres Körperteil.

Erklärt für einen Laien: Was ist der Unterschied zwischen einem Cuatro und einer Gitarre, außer daß das Cuatro vier Saiten hat und die Gitarre sechs?

Beide kommen aus der gleichen Familie, sind Vettern. Aber zugleich sind sie ganz verschieden. Die Gitarre ist viel größer, hat mehr Saiten und wird auf andere Weise gespielt. Mit der Gitarre kann man jede Art von Musik begleiten oder auch Melodien spielen, während des Cuatro in erster Linie ein Instrument zur Begleitung der Stimme, der Mandoline oder der Harfe ist, auch wenn es jetzt eine Entwicklung gibt, es auch als Soloinstrument zu spielen. Das Cuatro hat also eine völlig eigene Persönlichkeit und klingt auch völlig anders als die Gitarre.

Mir ist aufgefallen, daß Sie bei Ihren Konzerten keine ausdrücklich politischen Lieder singen…

Das ist richtig, ich spiele immer diese Art traditioneller venezolanischer Musik. Bei der Frage fällt mir ein, daß auch Atahualpa Yupanqui mir sie mal gestellt hat. Ich gehe davon aus, daß es bereits hochpolitisch ist, angesichts all dessen, was geschehen ist, und besonders in diesen Zeiten der Globalisierung, unsere Lieder, unsere Musik zu spielen.

Auf der Bühne zitieren Sie gern den uruguyaischen Schriftsteller Mario Benedetti (1920–2009). Einer seiner bekanntesten Sätze, der heute wieder sehr oft zitiert wird, ist: »Den Süden gibt es auch«. Was wollte Benedetti damit sagen?

Er sagte diesen Satz als Mensch aus Uruguay, denn der Cono Sur, der Südkegel des Kontinents, ist vom Rest Lateinamerikas isoliert, vor allem aufgrund der geographischen Lage. Sie sind sehr weit dort unten und kaum mit den anderen Regionen Lateinamerikas verbunden.

Vor einigen Wochen scheiterte in Uruguay eine Volksabstimmung zur Aufhebung des sogenannten Schlußpunktgesetzes. Somit bleibt die juristische Verfolgung der Verbrechen unter der Militärdiktatur praktisch unmöglich. Wie hätte Benedetti darauf reagiert?

Ich glaube, das hätte ihm große Sorgen bereitet. Auch mich hat dieses Ergebnis völlig überrascht, ich war überzeugt, daß die Initiatoren der Abstimmung eine überwältigende Mehrheit erreichen würden, nach allem, was dieses Land erlebt hat. Unter der Militärdiktatur hatte fast jede Familie einen Sohn oder eine Tochter, einen Vater, eine Mutter, einen Angehörigen oder einen Nachbarn, der oder die »verschwunden«, verhaftet oder ermordet worden war. So viele Menschen mußten aus Uruguay fliehen, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt ebenso viele Uruguayer im Ausland lebten wie in Uruguay selbst. Nach dieser Tragödie fällt es mir wirklich schwer, dieses Ergebnis zu verstehen. Aber auch in Chile gibt es noch viele Menschen, die Pinochet unterstützen und alles gut finden, was er getan hat. Das ist für mich etwas Unerklärbares.

Wie angekündigt wurde, werden Sie im kommenden Jahr erneut Konzerte in Deutschland geben, die im Zeichen des 200. Jahrestages der Unabhängigkeit Venezuelas und Südamerikas stehen sollen. Welche Bedeutung hat dieser Jahrestag?

Auch heute noch hat er eine sehr große Bedeutung. Nach der Unabhängigkeit von der spanischen Herrschaft vor 200 Jahren ist jetzt die Zeit gekommen, andere Abhängigkeiten zu überwinden. Nach der Befreiung von Spanien begann eine andere Abhängigkeit, nicht nur in Venezuela, sondern in fast allen Ländern der Welt. Ich hoffe, daß wir bald die völlige Unabhängigkeit aller Länder der Welt feiern können.

Die Feierlichkeiten zu diesem Jahrestag stehen in enger Verbindung mit der historischen Persönlichkeit des Befreiers Simón Bolívar, der ja auch eine wichtige Rolle im heutigen politischen Prozeß Venezuelas spielt: Bolivarische Revolution, Bolivarische Republik. Worauf gründet sich dieser heute noch so starke Kult um diesen Mann?

Bolívar war eine schon zu seiner Zeit sehr umstrittene Persönlichkeit, aber auch eine sehr entschlossene Person. Obwohl er aus der Oberschicht von Caracas stammte, widmete er sein Leben nicht nur Venezuela, sondern ganz Südamerika. Die Befreiung von fünf Ländern ist mit seinem Namen verbunden. Er opferte sich auf und starb arm und allein, abgelehnt von vielen Menschen. Bolívar träumte von einem großen Heimatland, und ich glaube, daß dies auch heute noch der einzige Weg für uns Lateinamerikaner ist. Nur alle gemeinsam werden wir vorankommen. Daß er zu seiner Zeit bereits diese Idee hatte und für dieses Ziel gekämpft hat, macht ihn zu einer außerordentlich bedeutenden Persönlichkeit.

Zur Zeit Bolívars war dieser Traum von einem Großen Heimatland, einer Konföderation der Republiken Lateinamerikas, nicht realisierbar. Es gab damals noch nicht die Bedingungen für die Verwirklichung dieses Traums. Sind sie heute besser?

Heute unterscheidet sich die Lage sehr von damals, aber ich glaube, daß die Bedingungen heute existieren. Es gibt ein sehr viel höheres Bewußtsein auf allen Ebenen. Natürlich gibt es auch mehr Gegner, denn es gibt vor allem mehr wirtschaftliche Interessen, und die sind ja immer das Entscheidende. Deshalb wird das Erreichen dieses Ziels heute ebenso hart sein wie damals. Venezuela befindet sich in einem ständigen Krieg. Vor kurzem habe ich in Ecuador gesungen, und dort herrscht die selbe Situation, ein Medienkrieg gegen den Fortschritt. Es ist ein Krieg ohne Waffen, denn die Medien haben die Rolle der Waffen übernommen. Es sind sehr mächtige Waffen, zumal sie von äußeren Kräften aus Europa und den USA unterstützt werden.

In Venezuela haben wir zwei große Probleme. Eines ist das Erdöl. Wenn wir Salat anbauen würden, würde uns niemand stören. Aber wir haben die größten Erdölreserven. Und das zweite große Problem oder der zweite Reichtum Venezuelas wird das Wasser sein.

Zu Zeiten Bolívars waren das heutige Kolumbien und das heutige Venezuela ein Land. Heute sind beide Staaten durch eine Grenze getrennt, und die Situation ist hier sehr angespannt…

Ich denke, wir brauchen große Anstrengungen für eine Verständigung. Kolumbien hat derzeit Probleme mit vielen Ländern in Lateinamerika, nicht nur mit unserem Land. Kolumbien, Peru, jetzt auch Panama und in nicht ganz so großem Ausmaß Mexiko sind wie drückende Steinchen im Schuh der Bewegung Lateinamerikas. Die Spannungen gründen sich darauf, daß wir keine sieben US-Militärbasen in Kolumbien wollen. Auch ich persönlich will sie nicht, und fast niemand will sie, denn ihre Errichtung bedeutet für uns eine ständige Bedrohung. Es ist doch völlig klar, daß diese Stützpunkte nichts mit dem Kampf gegen den Drogenhandel zu tun haben. Deshalb braucht es große Anstrengungen, um diese angespannte Situation zu überwinden.

Werfen wir zum Schluß einen Blick in die Zukunft: Wie sehen Sie Venezuela im Jahr 2020?

Ich glaube, Venezuela wird dann ein neues Land sein. Alle Veränderungen, die wir derzeit erleben, laufen sehr langsam ab. Zuerst mußten eine ganze Reihe von Fehlern und Problemen behoben und einige Dinge geändert werden, aber ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Und 2020 oder 2021 – wie Chávez immer sagt – wird Venezuela tatsächlich ein neues Land sein.

Erschienen am 19.12.2009 in der Wochenendbeilage der Tageszeitung junge Welt