Rückkehr der Guerilla

Die Jubelgesänge der Regierung in Bogotá waren verfrüht. 2008 hatte sie erklärt, bis 2010 werde die Organisation der Vergangenheit angehören. Nach dem Tod des legendären Gründers der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC), Manuel Marulanda, Ende März 2008, nach der wenige Tage zuvor erfolgten Ermordung ihres Sprechers Raúl Reyes in einem Camp in Ecuador sowie nach der im gleichen Jahr geglückten Befreiung Ingrid Betancourts aus sechsjähriger Gefangenschaft schien die älteste Guerilla Südamerikas am Ende zu sein.

Doch im April 2010 veröffentlichte das Institut »Nuevo Arco Iris« (Neuer Regenbogen) in Bogotá eine aufsehenerregende Studie. Die unter anderem von der EU, der UNO und der Deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) unterstützte Einrichtung, die sich für die Förderung von Frieden und Entwicklung in Kolumbien einsetzt, stellt in dem 18 Seiten umfassenden Dokument fest, daß die FARC nicht nur nicht geschlagen seien, sondern sich erholt hätten. Sie versuchten, in Regionen Fuß zu fassen, aus denen sie die Armee verdrängt hatte.

Tatsächlich war es der von den USA ausgerüsteten, ausgebildeten und finanzierten Armee seit etwa 2006 gelungen, den seit Mitte der 90er Jahre andauernden Vormarsch der Guerilla aufzuhalten und teilweise umzukehren. Das gelang vor allem auch durch den Einsatz brutaler Gewalt, die bis heute anhält. So stellte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte (UNHCHR), Navanethem Pillay, nach einem Besuch in Kolumbien im November 2009 fest, daß staatliche Morde im ganzen Land nach wie vor weit verbreitet seien. Besondere Aufmerksamkeit fand der Fall von Soacha, einem Vorort der Hauptstadt Bogotá. Die Ermordung zahlreicher junger Männer, die anschließend von Militärs als »im Kampf getötete Guerilleros« präsentiert wurden, zwang die Regierung dazu, die Verantwortung der Sicherheitskräfte für die Verbrechen einzuräumen, Armeechef Mario Montoya mußte zurücktreten.

Danach war von einer schnellen Zerschlagung der FARC nicht mehr die Rede. »Nuevo Arco Iris« stellte fest, daß der bewaffnete Konflikt »versumpft«, also festgefahren, sei. »Das Militär hat weiterhin in großem Umfang die Kontrolle über die Produktions- und Handelszentren des Landes sowie über seine wichtigsten Verbindungsstrecken. Die FARC haben aber begonnen, einige Gebiete wieder zu besetzen. Entgegen der Tendenz von 2008 halten sie heute eine starke Kampfkraft aufrecht, die sie bei Aktionen in La Guajira, Guaviare, Cauca und Nariño gezeigt haben«, heißt es in dem Bericht.

Um von solchen Fehlschlägen abzulenken, provozierte der damals noch amtierende Staatschef Álvaro Uribe eine schwere Krise mit Venezuela, als er dem Nachbarland im Juli vorwarf, den Führungskadern der FARC Unterschlupf zu gewähren. Venezuela wies diese Anschuldigungen zurück. Erst nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Juan Manuel Santos und einem Gipfeltreffen mit seinem venezolanischen Kollegen Hugo Chávez im August entspannte sich die Lage. Am 22. September gelang es den kolumbianischen Truppen dann bei einem Bombenangriff mit mehr als 50 Flugzeugen und Hubschraubern auf ein Lager der FARC im zentralkolumbianischen La Macarena, den als Militärchef der Guerilla gehandelten Jorge Briceño alias Mono Jojoy zu töten.

In einer Mitte Oktober veröffentlichten Erklärung wies das Sekretariat des Oberkommandos, die höchste Befehlsinstanz der Revolutionären Streitkräfte, die erneute Aufforderung des Staatschefs an die FARC zurück, die Waffen niederzulegen und zu kapitulieren: »Ein Frieden, der als Kapitulation oder Übergabe verstanden wird, ist eine Phantasie der Oligarchie und wäre nicht mehr als ein verräterisches Verbrechen am Volk und dessen historischem Ziel, endlich soziale Gerechtigkeit für alle zu erreichen.« Der Tod des »großen Guerillero« Jorge Briceño habe in Präsident Santos den »Fieberwahn« wiederbelebt, daß »das Ende vom Ende der Guerilla« bevorstehe. Dieses werde jedoch seit der Gründung der FARC im Jahr 1964 immer wieder vorhergesagt, um die »militaristische Besessenheit« eines Teils der Oligarchie zu rechtfertigen. »Sie merken nicht, daß sie, wenn sie die Tür für den Dialog und eine politische Lösung verschließen, die Türen für die Revolution öffnen«, so die Guerilla.

Die FARC haben lange Erfahrungen mit Niederlagen, aber auch mit gescheiterten Verhandlungen. Zumindest zweimal in der Geschichte ihres Kampfes schien eine politische Lösung nahe zu sein. So gründete die Organisation nach einem Friedensabkommen mit der damaligen Regierung von Staatschef Belisario Betancur eine legale Partei, die Patriotische Union (UP). Doch die Hoffnung auf Frieden war nicht von langer Dauer. Ihr Präsidentschaftskandidat Pardo Leal wurde am 12. Oktober 1987 ermordet, auch sein Nachfolger Bernardo Jaramillo Ossa fiel den Todesschwadronen zum Opfer. Paramilitärs, Drogenbanden und Teile der Armee führten einen Vernichtungsfeldzug gegen Abgeordnete, Funktionäre und Aktivisten der UP. Schätzungen sprechen von 2000 bis 5000 Menschen, die diesem schmutzigen Krieg gegen eine zugelassene Partei zum Opfer fielen. Schließlich griff die Armee am 9. Dezember 1990 das Hauptquartier der FARC, das sogenannte »Grüne Haus«, an. Danach entschieden sich die FARC, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen.

Auch ein weiterer Versuch, der 1998 hoffnungsvoll mit der Einrichtung einer drei Prozent des Staatsgebiets umfassenden entmilitarisierten Zone um San Vicente del Caguán begann, endete 2002 mit der Bombardierung des Gebiets. Gegenüber der Wochenzeitung Unsere Zeit sagte FARC-Europasprecher Juan Antonio Rojas damals, die Regierung in Bogotá habe dem Druck Washingtons nachgegeben, das den Dialog von Anfang an abgelehnt hatte.

Trotz solcher Erfahrungen haben sich die FARC in den vergangenen Wochen wiederholt für die Wiederaufnahme von Verhandlungen ausgesprochen. »Kolumbien muß Wege finden, die zu einer Beendigung dieses Bruderkrieges führen, Pfade der Versöhnung, die uns zu Friedensabkommen führen. Aber diese kann es nicht durch einen falschen Frieden geben, in dem eine oligarche Minderheit sich weiter alle Reichtümer aneignet, während die große Mehrheit durch das Gewicht der Armut, den militaristischen Terror, das Elend und den moralischen Niedergang einer bis auf die Knochen korrupten Führungsschicht unterdrückt wird«, schreibt die Guerilla in ihrer Erklärung zum Tod Jorge Briceños. In Bogotá scheint man daran bislang kein Interesse zu haben.

Erschienen am 10. November 2010 in der Beilage trikont der Tageszeitung junge Welt