»Soziale Ungleichheit ist Ursache der Gewalt«

Uribe verhindert eine humanitäre Lösung. Gespräch mit Yury Tatiana Moncayo

Yury Tatiana Moncayo (23) setzt sich aktiv für die Freiheit ihres Brudes Pablo Emilio ein.

Bereits im April kündigte die FARC-Guerilla die Freilassung Ihres Bruders Pablo Emilio und des Soldaten José Daniel Calvo an, aber seither ist ein halbes Jahr vergangen, ohne daß etwas geschehen wäre. Warum?

Die FARC stellen keinerlei Bedingungen für die Freilassung von Pablo Emilio, außer daß die Senatorin Piedad Córdoba und mein Vater persönlich die Gefangenen entgegennehmen, denn die FARC vertrauen Piedad Córdoba, weil sie in der Vergangenheit bereits die Freilassung anderer Soldaten oder aus politischen Gründen Entführter vermittelt hat. Deshalb fordern wir, daß Córdoba auch in diesem Fall als Vermittlerin arbeiten darf. Jetzt sind schon rund sechs Monate vergangen, aber wir haben auf diese Bitte noch immer keine positive Antwort der Regierung erhalten.

Welches Interesse könnte die kolumbianische Regierung an dieser Verzögerung haben?

Das wüßten wir auch gerne. In dem Maße, wie die Zeit vergeht, wird die Situation für meine Eltern, für meine Schwestern und für mich immer schwieriger, und natürlich auch für Pablo Emilio. Wir haben einige Tage nach der Ankündigung der FARC wegen der Unnachgiebigkeit der Regierung vor Gericht einen Antrag gegen Präsident Uribe eingebracht, damit er der Freilassung meines Bruders keine Hindernisse in den Weg stellt. Dieser Antrag ist von den Gerichten zweimal abgelehnt worden.

In einem Video, das im September als Lebenszeichen verbreitet wurde, warnt Pablo Emilio, daß sein Leben in den vergangenen Monaten durch die Operationen des kolumbianischen Militärs mehrfach in Gefahr war…

Seit Jahren trägt mein Vater Ketten, um gegen die Versuche einer gewaltsamen, militärischen Befreiung der Geiseln und gegen die Militäroperationen der Regierung zu protestieren. Die Situation ist tatsächlich besorgniserregend, denn diese Operationen bringen das Leben der Gefangenen in Gefahr. Deshalb ist die ganze Familie Moncayo entschieden gegen die militärischen Befreiungsversuche, wir fordern einen humanitären Gefangenenaustausch zwischen der Guerilla und der Regierung. Das würde nicht nur unserer Familie nutzen, sondern der gesamten Gesellschaft. Die Regierung bombardiert Gebiete, ohne daß es sie interessiert, wen sie dabei ermordet. Eine Bombe aus einem Hubschrauber oder aus einem ferngesteuerten Flugzeug unterscheidet nicht zwischen einem Guerillero und einem Entführten, sondern tötet blind alle, die ihren Weg kreuzen.

Die Senatorin Piedad Córdoba hat vor einigen Tagen angekündigt, daß die Freilassung von Pablo Emilio in der ersten Novemberhälfte erfolgen könnte. Teilen Sie diese Hoffnung?

Unsere Hoffnung halten wir seit der Entführung meines Bruders vor zwölf Jahren aufrecht. Was jetzt hier fehlt, ist nur der Wille und die Bereitschaft der Regierung Uribe, nichts anderes. Der Präsident muß nur sagen, daß er einverstanden ist, daß die Logistik und alles mit der Freilassung Zusammenhängende organisiert wird, und Pablo Emilio wäre in weniger als zwei Tagen frei.

Im vergangenen Jahr gelang der kolumbianischen Regierung die Befreiung von Ingrid Betancourt durch eine Falle, die sie der Guerilla gestellt hatten. Hat diese Aktion die Freilassung Ihres Bruders erschwert?

Wir haben natürlich nichts dagegen, daß sie die Gefangenen befreien, solange sie uns garantieren, daß Pablo Emilio und die anderen lebend dort heraus kommen. Aber so ist das wie Russisches Roulett, denn bei einer militärischen Befreiungsaktion weiß man nie, wer überlebt und wer ums Leben kommt. Deshalb sind solche Aktionen kontraproduktiv für einen Friedensprozeß, den wir immer angestrebt haben. Der Guerilla hat die Art und Weise, wie Ingrid Betancourt befreit wurde, natürlich gar nicht gefallen, aber sie zeigen nach wie vor ihre Bereitschaft zu Freilassungen.

Die kolumbianische Regierung bezeichnet die FARC regelmäßig als »Terroristen« und »Verbrecher« und erkennt sie nicht als kriegführende Partei an. Nachdem Sie in den vergangenen Jahren notgedrungen regelmäßig mit der Guerilla zu tun hatten, halten Sie die Gegenseite für zuverlässige Verhandlungspartner?

Wir sind weder ihre Freunde noch Feinde. Uns ist völlig klar, daß die Guerilla ursprünglich als Reaktion auf die soziale Ungleichheit in Kolumbien entstanden ist, und diese Bedingungen bestehen nach wie vor. Deshalb schließen sich viele Jugendliche noch immer der Guerilla an, weil sie keine andere Chance in dieser Gesellschaft haben. Solange die bestehende Ungleichheit in der Gesellschaft fortbesteht, wird der Konflikt nicht verschwinden.

Erschienen am 30. Oktober 2009 in der Tageszeitung junge Welt