»Ich will auch nicht mehr«

Der Gründonnerstag des Jahres 1810 begann in Caracas so, wie es in einer katholisch geprägten spanischen Kolonie in Süd­amerika zu sein hatte. Die guten Bürger und Aristokraten machten sich auf den Weg zum Gottesdienst in die Kathedrale, und auch der seit elf Monaten als Generalkapitän von Venezuela amtierende Vertreter des spanischen Königs, Vicente de Emparan y Orbe, richtete sich an diesem 19. April darauf ein, seine gute Christenpflicht zu erfüllen. Der 63jährige frühere Gouverneur der Provinz Cumaná war 1808 von den französischen Eroberern der Iberischen Halbinsel als Regent der Kolonie Venezuela eingesetzt worden, nachdem Napoleon Bonaparte seinen Bruder Joseph als König von Spa­nien ausgerufen hatte. Dieser erreichte seinen Thron in der Hauptstadt Madrid nur gegen den Widerstand spanischer Truppen und mußte sich auch in den folgenden Monaten gegen eine bewaffneten Guerilla behaupten. In Aranjuez wurde mit der »Junta Suprema Central« eine Gegenregierung gebildet, die sich als Vertretung des von Napoleon nicht anerkannten und in Valençay gefangengehaltenen Königs Ferdinand VII. ansah und den Widerstand gegen die Besatzer führte.

Obwohl auch Vicente de Emparan vor seiner Abreise nach Venezuela Ferdinand die Treue geschworen und die Junta ihn in seinem Amt als Generalkapitän bestätigt hatte, galt er in Venezuela als Marionette der Franzosen und stieß auf die Ablehnung der reichen Oligarchie von Caracas. Diese war ohnehin mit den Verhältnissen unzufrieden, denn die restriktiven Handelsbestimmungen der Kolonialmacht verhinderten wirtschaftliches Wachstum, der Staat sicherte sich Monopole und erhöhte die Steuern. Zugleich versuchte die Kolonialmacht, wirtschaftlich erfolgreiche »Pardos« – Menschen nicht rein weißer Abstammung – und ehemalige Sklaven zu integrieren, indem diese gegen Geldzahlungen den Status von »Weißen« erlangen konnten. Das tangierte den Standesdünkel der Oligarchie.

Gegen Spanien

Auch in anderen Teilen Südamerikas wuchs die Unruhe. So war am 10. August 1809 in Quito eine Regierung eingesetzt worden, die die spanischen Kolonialbehörden nicht mehr anerkannte, und bereits einige Monate zuvor, am 25. Mai, war es in Chuquisaca im heutigen Bolivien zu einem bewaffneten Aufstand gekommen. Doch als unheilverkündendes Vorzeichen galten die Erfahrung Haitis. Der Karibikstaat hatte sich 1804 durch einen von Sklaven geführten Aufstand nicht nur von der französischen Kolonialherrschaft befreit, sondern auch die Sklaverei abgeschafft. Die Plantagen wurden enteignet und aufgeteilt, besetzt oder verlassen.

In Venezuela war es in der Vergangenheit ebenfalls wiederholt zu Sklavenaufständen gekommen. So führte José Leonardo Chirino 1795 in der Stadt Coro eine Rebellion an, die von Spaniern und Großgrundbesitzern gemeinsam niedergeschlagen wurde. Die in den Kolonien geborenen Nachfahren von Spaniern, die Kreolen, wollten Freiheit und Unabhängigkeit für sich. An die arme Bevölkerung dachten sie dabei zunächst nicht, und schon gar nicht an ihre schwarzen Sklaven.

Und so versammelten sich am 19. April 1810 im Cabildo von Caracas Angehörige der Aristokratie und Bourgeoisie, um Emparan die Treue aufzukündigen. Als dieser davon hörte, befragte er die auf der Plaza Mayor im Zentrum von Caracas – der heutigen Plaza Bolívar – versammelten Menschen, ob er deren Unterstützung habe. Diese antwortete mit einem vielfachen »Nein«, woraufhin Emparan seinen Rücktritt erklärte: »Dann will ich auch nicht mehr«. Kurz darauf kehrte er nach Spanien zurück. Die Verschwörer bildeten eine Regierungsjunta im Namen von Ferdinand VII. Auch wenn sich die Bewegung schnell auf Cumaná, Barinas, Barcelona, Trujillo, Mérida und die Insel Margarita ausbreitete und nur die Provinzen Maracaibo, Coro und Guayana der spanischen Kolonialmacht treu blieben, hätte dieses Ereignis eine Episode bleiben können. Doch es stellte den Auftakt des Kampfes um die vollständige Unabhängigkeit Venezuelas dar, der zunehmend an Dynamik gewann und am 5. Juli 1811 zur offiziellen Unabhängigkeitserklärung sowie nach jahrelangem Krieg im Juni 1821 zur endgültigen Vertreibung der Spanier führte.

Rolle der USA

Die Befreiungsbewegung wurde auch von einem 27 Jahre alten Mann unterstützt, der bei den Ereignissen vom 19. April 1810 zwar noch keine entscheidende Rolle spielte, dann aber schnell zu der zentralen Persönlichkeit des Kampfes um die Unabhängigkeit Venezuelas wurde und ihr seinen Stempel aufdrückte: Simón Bolívar. Der Sohn einer reichen Aristokraten- und Großgrundbesitzerfamilie wandelte sich von einem autoritär eingestellten Sohn seiner Klasse zu einem fortschrittlichen Humanisten. Er ordnete das Ende der Sklaverei an, wie er es zuvor dem haitianischen Präsidenten Alexandre Pétion im Gegenzug für dessen Unterstützung im Kampf gegen die Kolonialherrschaft versprochen hatte: »Der unglückliche Teil unserer Brüder, der unter dem Elend der Sklaverei gestöhnt hat, ist frei. Die Natur, die Gerechtigkeit und die Politik fordern die Emanzipation der Sklaven. Von nun an wird es in Venezuela nur noch eine Klasse von Menschen geben, alle werden Bürger sein.«

Zwar kämpften in den Reihen der Unabhängigkeitsbewegung auch befreite Sklaven, jedoch sorgten Großgrundbesitzer und städtische Oligarchen schon bald nach dem militärischen Sieg über die Kolonialmacht wieder dafür, daß die Sklaverei zurückkehrte. Erst 1854, fast ein Vierteljahrhundert nach Bolívars Tod, konnte der damalige Präsident José Gregorio Monagas gegen erbitterten Widerstand die endgültige Abschaffung der Sklaverei durchsetzen.

Wie nur wenige andere Persönlichkeiten seiner Zeit erkannte Simón Bolívar bereits 1829 die Gefahr, die von den jungen Vereinigten Staaten von Nordamerika ausgingen. »Die USA scheinen von der Vorsehung dazu bestimmt zu sein, Amerika im Namen der Freiheit mit Elend zu überziehen«, schrieb er in einem Brief an den britischen Diplomaten Patricio Campbell. Bereits drei Jahre zuvor mußte Bolívar Bestrebungen aufgeben, auch Kuba von der spanischen Kolonialherrschaft zu befreien, nachdem die USA ihn über seinen Außenminister José Rafael Revenga vor einem solchen Schritt warnten, weil sie sich die Insel selbst einverleiben wollten. Auch für die übrigen Staaten des Subkontinents sah Bolívar die Gefahr einer erneuten Versklavung voraus, weshalb er immer wieder die Forderung nach einer Vereinigung der lateinamerikanischen Republiken erhob und sogar eine Militärallianz zwischen Kolum­bien, Guatemala und Mexiko vorschlug, »den einzigen Staaten, die Angriffe durch den Norden fürchten«.

Tatsächlich führten sich die USA nach der Vertreibung der Spanier über mehr als ein Jahrhundert hinweg als neue Kolonialmacht auf und nahmen sich das Recht heraus, Regierungen des Subkontinents je nach ihren Interessen ein- oder abzusetzen. Auch deshalb sehen die progressiven Regierungen der Region ihren Kampf heute als Fortsetzung der Bewegung vor 200 Jahren – bis zur wirklichen Unabhängigkeit.

Erschienen am 17. April 2010 in der Tageszeitung junge Welt und am 20. April 2010 in der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek