Revolutionäres Erbe

Knapp 500 Vertreter revolutionärer Organisationen aus 82 Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas kamen im Januar 1966 in der kubanischen Hauptstadt zur »Ersten Dreikontinentekonferenz«, kurz: »Tricontinental«, zusammen. Es waren Abgesandte von Guerillaorganisationen, Befreiungsbewegungen, kommunistischen Parteien und anderer fortschrittlicher Strömungen sowie von Regierungen gerade vom Kolonialismus gelöster Länder. Schauplatz der vom späteren chilenischen Präsidenten Salvador Allende geleiteten Versammlung war das Hotel »Habana Libre«, das frühere »Havana Hilton«, in dem in den ersten Monaten nach dem Sieg der Kubanischen Revolution die Regierung von Fidel Castro untergebracht gewesen war.

Vorbereitet worden war die Versammlung in der Hauptstadt des Karibikstaates von der Solidaritätsorganisation der Völker Afrikas und Asiens (OSPAA), die 1957 von 29 unabhängig gewordenen Ländern und sechs nationalen Befreiungsbewegungen in Kairo, Ägypten, gegründet worden war. Die vierte Konferenz der OSPAA 1965 in Winneba, Ghana, beschloss, die zwei Jahre zuvor von Fidel Castro ausgesprochene Einladung anzunehmen, die Zusammenarbeit auf Lateinamerika auszudehnen und die erste »Tricontinental« in Havanna durchzuführen. Zu den Unterstützern dieser Idee zählten Amílcar Cabral (1924 – 1973), der Anführer des Befreiungskampfes in Guinea-Bissau gegen die portugiesische Kolonialherrschaft, und der 1920 geborene marokkanische Sozialist Mehdi Ben Barka, der an der Spitze des Vorbereitungskomitees für die Konferenz in Havanna stand. Er selbst erlebte ihre Eröffnung nicht mehr, denn am 29. Oktober 1965 wurde er von Agenten des französischen Auslandsgeheimdienstes SDECE in Paris ermordet.

Auch auf diese Weise sollte das Zustandekommen der Konferenz verhindert oder sabotiert werden. Vor allem die alte Kolonialmacht Frankreich fürchtete, mit der Unabhängigkeit von immer mehr Ländern Afrikas und Asiens ihren bisherigen Einfluss zu verlieren. Außerdem vertraten viele der Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen sozialistische Ideen. Das sollte die »Tricontinental« prägen, wie Ben Barka wenige Wochen vor seiner Ermordung gegenüber Journalisten sagte. Sie werde »die beiden großen heutigen Strömungen der Weltrevolution zusammenführen, die des sozialistischen Oktober in der alten Sowjetunion und die Strömung des Kampfes um die nationale Befreiung in den Ländern der Dritten Welt«. Deshalb finde die Konferenz in Kuba statt, das selbst diese Einheit verkörpere, und deshalb werde sie in Lateinamerika durchgeführt, das zum Zentrum des Kampfes gegen den Neokolonialismus geworden sei, »diesem neuen Gesicht des alten Kolonialismus, nachdem die Völker ihre formale Unabhängigkeit erreicht haben«.

Es war nicht nur das erste Mal, dass Vertreter dieser Strömungen aus drei Kontinenten zusammenkamen. Die »Tricontinental« konnte auch die Kluft überbrücken, die in der kommunistischen Bewegung durch den Konflikt zwischen der Sowjetunion und China entstanden war. Das verschwieg auch Castro nicht, der am letzten Tag der Konferenz, am 15. Januar 1966, die Bilanz zog, alle »Wahrsager des Imperialismus«, die der Versammlung eine Spaltung und ihr Scheitern vorausgesagt hätten, seien Lügen gestraft worden. Die Konferenz sei zu einem Erfolg geworden und habe sogar eine drei Kontinente umfassende Organisation mit Sitz in Havanna konstituieren können. »Das war ein Sieg der revolutionären Bewegung, denn nie zuvor hat es ein so großes und so umfassendes Treffen gegeben, bei dem die revolutionären Abgeordneten von 82 Völkern zusammenkommen, um ihre gemeinsamen Probleme zu diskutieren.«

Bis heute ist diese erste Konferenz die größte von Vertretern der Völker des Südens geblieben, wie die Präsidentin der dort gegründeten »Organisation der Solidarität mit den Völkern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas« (OSPAAAL), Lourdes Cervantes Vázquez, im Gespräch mit junge Welt unterstrich.

In Europa ist die »Tricontinental« vor allem durch Che Guevaras Botschaft an die Konferenz bekanntgeworden, aus der er seine legendäre Losung »Schafft zwei, drei, viele Vietnam« stammt. Er selbst musste sich versteckt halten, als Revolutionäre aus aller Welt in Havanna tagten. Che hatte sich gerade aus dem Kongo zurückgezogen, wo er auf der Seiten der Befreiungsbewegung gekämpft hatte, und es war noch völlig unklar, wie seine nächsten Schritte aussehen würden. Seine »Botschaft an die Völker der Welt« erschien deshalb erst mehr als ein Jahr später, am 16. April 1967, als Beilage in der Zeitschrift Tricontinental. Che kämpfte zu dieser Zeit bereits in Bolivien, wo er am 9. Oktober 1967 auf Befehl der CIA ermordet wurde. Die heutige Bedeutung seines Textes besteht nach Ansicht von Cervantes Vázquez weniger in der Beschreibung der damaligen politischen Lage, sondern in den von Guevara entwickelten strategischen Konzepten, vor allem in der Betonung der unverzichtbaren Einheit der Völker der sogenannten Dritten Welt gegen die Angriffe des Kolonialismus. Die »vielen Vietnam«, von denen Che sprach, seien heute in Lateinamerika die regionalen Zusammenschlüsse, die sich auf Initiative des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez und unter dem Eindruck der revolutionären Prozesse in mehreren Ländern entwickelt haben. In Afrika entspreche der vielfältige Widerstand gegen die Rekolonialisierung durch den Imperialismus dieser Forderung Guevaras. Und vergessen dürfe man auch nicht die verbliebenen »Bastionen des Sozialismus«, die den Imperialismus herausfordern und auf internationaler Ebene um neue Kräfteverhältnisse ringen.

Die OSPAAAL feierte in den vergangenen Monaten mit zahlreichen Veranstaltungen ihr 50jähriges Bestehen, und Cervantes Vázquez zog gegenüber jW eine positive Bilanz des Wirkens ihrer Organisation. Das wichtigste Ergebnis der OSPAAAL in den vergangenen fünf Jahrzehnten sei gewesen, dass es seither keiner gerechten Sache der Völker der Dritten Welt an Unterstützung und Solidarität gefehlt habe. Mit Veranstaltungen, Stellungnahmen und der Zeitschrift Tricontinental habe man weltweit über die antiimperialistischen Kämpfe der Völker informieren und das gegenseitige Verständnis fördern können. Deshalb sei die Organisation heute noch ebenso wichtig wie vor einem halben Jahrhundert. Dieser Ansicht ist auch ihr Kollege Domingos Caetano, der die angolanische Regierungspartei MPLA in Havanna vertritt und dem Sekretariat der OSPAAAL angehört. Der Kampf sei erst beendet, wenn alle Völker der Welt in Frieden und Freiheit leben könnten, sagte er im jW-Gespräch.

Auf jW-Nachfrage, ob es nicht an der Zeit sei, die Solidaritätsarbeit auch auf Völker in Europa, wie etwa in Griechenland oder der Ukraine, auszuweiten, zeigte sich OSPAAAL-Präsidentin Cervantes Vázquez aufgeschlossen. Dieses Ansinnen sei sehr berechtigt: »Die extreme Transnationalisierung des Kapitals, das Aufzwingen neoliberaler Rezepte nicht nur in den Ländern des Südens, sondern auch in den Industrienationen selbst hat die Dritte Welt geographisch nach Norden ausgedehnt. Die Realitäten der Länder des Südens haben sich nach Norden ausgeweitet.« Deshalb seien alle Völker des Nordens als Mitstreiter willkommen, wenn sie sich entsprechend den gemeinsamen Prinzipien dem Kampf anschließen wollten.

Erschienen am 20. Juli 2016 in der Beilage »Unser Amerika« der Tageszeitung junge Welt