Republik statt Madrid

Nicht einmal ein Jahr nach den letzten Wahlen und trotz einer komfortablen Parlamentsmehrheit erscheint ein Sturz der spanischen Regierung um Ministerpräsident Mariano Rajoy nicht mehr ausgeschlossen. Für den 15. September rufen die spanischen Gewerkschaften zusammen mit unzähligen sozialen Organisationen zu einem »Marsch auf Madrid« auf, zu dem Hunderttausende Menschen erwartet werden. Zehn Tage später will ein breites Bündnis in Madrid das Parlamentsgebäude umstellen. Die Blockade soll erst dann beendet werden, wenn die Regierung ihren Rücktritt erklärt, so die Ankündigung. Und für den folgenden Tag haben zumindest die baskischen Gewerkschaften bereits zu einem Generalstreik aufgerufen.

Hintergrund der Proteste ist die dramatische Wirtschaftskrise. Wie das Nationale Institut für Statistik (INE) in dieser Woche mitteilte, brach die Industrieproduktion des Landes im Juni im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 6,9 Prozent ein. Zugleich wurde am Freitag bekannt, daß rund 200000 Erwerbslose im Juli und August die ihnen zustehenden staatlichen Beihilfen nicht erhalten haben.

Auf die zunehmenden Unruhe reagiert die von der postfranquistischen Volkspartei (PP) geführte Regierung mit Repression. Mehrere Mitglieder der Andalusischen Arbeitergewerkschaft (SAT) wurden festgenommen, weil sie am vergangenen Dienstag an der Aktion ihrer Vereinigung in einem Supermarkt der Handelskette Mercadona im südspanischen Écija teilgenommen haben sollen. Dort hatten die Aktivisten neun Einkaufswagen voller Grundnahrungsmittel aus dem Geschäft geholt, um sie an die Armen zu verteilen (jW berichtete). Am Freitag morgen räumte die Guardia Civil zudem das seit gut zwei Wochen von Aktivisten besetzte Landgut »Las Turquillas«. Die Landarbeiter kündigten bereits an, umgehend auf die Finca, die dem spanischen Verteidigungsministerium gehört, zurückkehren zu wollen. In der Region mehren sich jedoch auch Stimmen, die eine Zugehörigkeit Andalusiens zum Staatsverbund ganz in Frage stellen. Auf Plakaten heißt es »Unsere Krise ist Spanien – brechen wir mit ihr«.

Für Madrid gefährlicher könnten solche Tendenzen in Katalonien werden. Dort geht die Regionalregierung, die Generalitat, zunehmend auf Konfrontationskurs zur Zentralregierung und fordert einen Fiskalpakt, durch den Katalonien sämtliche Einnahmen zunächst selbst verwalten soll, bevor es einen Teil an die anderen Landesteile abgibt. Bislang fließen alle Steuern zunächst nach Madrid, das sie dann an die autonomen Regionen verteilt. Katalonien fühlt sich dabei schon seit Jahrzehnten benachteiligt, doch nun spitzt sich der Unmut zu. Kulturminister Ferran Mascarell sprach sich erst vor wenigen Tagen dafür aus, Katalonien als unabhängigen Staat zu konstituieren, und Innenminister Felip Puig wollte am Freitag nicht ausschließen, über das Steuerproblem eine Volksabstimmung durchzuführen und die angestrebte Änderung auch ohne Abkommen mit Madrid umzusetzen. Das hat die Regierungskoalition in Barcelona, die bislang aus der bürgerlich-nationalistischen CiU und der auch in Madrid regierenden PP besteht, vor eine Zerreißprobe gestellt. Spekuliert wird über einen Koalitionsbruch noch im September. Dann könnte die CiU die Republikanische Linke (ERC) ins Boot holen. Deren Parteichef Oriol Junqueras propagiert ganz offen eine unabhängige Republik Katalonien.

Erschienen am 11. August 2012 in der Tageszeitung junge Welt