junge Welt, 25. Januar 2012

»Brutale Aggression«

junge Welt, 25. Januar 2012Im Schweizerischen Davos eröffnet Bundeskanzlerin Angela Merkel heute das »Weltwirtschaftsforum«, zu dem rund 2500 »Entscheidungsträger« erwartet werden. Im Mittelpunkt der Diskussionen in dem mondänen Kurort steht die Euro-Krise, während es »verhältnismäßig wenige Gespräche« zu sozialen Problemen und Umweltfragen geben wird, wie der Dekan der China European International Business School in Schanghai, John Quelch, gegenüber der Nachrichtenagentur AFP einräumte.

Als Gegenveranstaltung zu diesem Bonzentreffen kamen am gestrigen Dienstag im brasilianischen Porto Alegre mehrere tausend Menschen zur Eröffnung des »Thematischen Sozialforums« zusammen. »Wir müssen die Welt neu erfinden. Von den etablierten Mächten haben wir keine wirksamen Antworten zu erwarten, « heißt es in dem Aufruf zu der Großveranstaltung, zu der insgesamt 30000 Teilnehmer erwartet werden, unter ihnen Staatspräsidentin Dilma Rousseff.

Überschattet wird das Sozialforum jedoch durch gewaltsame Auseinandersetzungen im gut 1000 Kilometer entfernten São José dos Campos, einer rund 600000 Einwohner zählenden Stadt im Bundesstaat São Paulo. Trotz eines entgegengesetzten Gerichtsurteils und Vermittlungsbemühungen der Zentralregierung begann die Militärpolizei am Sonntag, im dort gelegenen Pinheirinho gewaltsam eine seit acht Jahren bestehende Siedlung von 1500 Familien zu räumen. Dabei wurden Augenzeugenberichten zufolge mindestens drei Menschen getötet, unter ihnen ein kleines Kind. Zu den zahlreichen Verletzten gehörte auch der von Präsidentin Rousseff als Vermittler nach Pinheirinho geschickte Staatssekretär Paulo Maldos, der das Vorgehen der Polizei als »brutale Aggression« verurteilte. Die Bewohner der Siedlung wehrten sich mit Barrikaden, während die Beamten Jagd auf die »Anführer« der Widerstandsbewegung machten. Noch in der Nacht zum Dienstag kam es auch in benachbarten Stadtvierteln und Favelas zu Auseinandersetzungen. Autos, Geschäfte und Behörden gingen in Flammen auf. »Wir suchen derzeit nach Verschwundenen, Verletzten und eventuell weiteren Todesopfern«, berichtete ein Mitglied des linken Gewerkschaftsverbandes CTP-Conlutas der jungen Welt. Derzeit fehlt den Angaben zufolge von mehreren Aktivisten jede Spur, doch »die Militärpolizei weigert sich, Informationen über die Verschwundenen zu geben«. Die aus ihren Häusern vertriebenen Familien werden von den Behörden in einem Internierungslager festgehalten, Journalisten wird der Zugang verweigert.

Im Februar 2004 hatten sich in Pinheirinho zunächst rund 500 obdachlose Familien auf einem Grundstück des berüchtigten Finanzspekulanten Naji Nahas niedergelassen, der damals gerade wegen illegaler Finanzgeschäfte vor Gericht stand. Obwohl Nahas freigesprochen wurde, blieb er im Visier der Polizei und wurde 2008 im Rahmen einer Großoperation gegen Korruption und Veruntreuung öffentlicher Gelder erneut verhaftet. Mittlerweile ist er wieder auf freiem Fuß, der Prozeß gegen ihn ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Auf seine Freunde von der São Paulo regierenden rechtssozialdemokratischen PSDB kann sich Nahas aber offensichtlich trotzdem verlassen. Die mittlerweile 6000 Menschen, die auf dem sonst nicht genutzten Grundstück lebten und auf ihr in der brasilianischen Verfassung festgeschriebenes Recht auf Wohnraum pochen, sind Provinzgouverneur Geraldo Alckmin und Bürgermeister Eduardo Cury hingegen egal.

Erschienen am 25. Januar 2012 in der Tageszeitung junge Welt