Radikal gegen Wohnungsnot

In Venezuela fehlen offiziellen Zahlen zufolge rund 2,5 Millionen Wohnungen. Um sein Versprechen einhalten zu können, bis zum Jahr 2021 die Wohnungsnot zu beseitigen, greift der venezolanische Präsident Hugo Chávez deshalb nun zu drastischen Maßnahmen. Am Sonntag kündigte der Staatschef in seiner wöchentlichen Fernsehsendung »Aló, Presidente« die Verstaatlichung von sechs Immobilienprojekten im Großraum der Hauptstadt Caracas und die zeitweilige Besetzung von acht weiteren Projekten durch die Nationalgarde an. Durch diese Maßnahmen soll die stockende Fertigstellung der Wohnungen vorangetrieben werden. Chávez kritisierte, daß die hinter den Projekten stehenden Unternehmen den Abschluß der Arbeiten mutwillig hinausgezögert und zugleich versucht hätten, von ihren Kunden überhöhte Preise zu kassieren: »Wir werden nicht zulassen, daß die Mittelschicht weiter ausgebeutet wird.« Die Unternehmen hätten das Geld von ihren Kunden kassiert, dann aber teilweise den Bau der Wohnungen eingestellt. Nun werde die Regierung die Bauten vollenden und den rechtmäßigen Käufern übergeben. Den betrügerischen Unternehmen drohen hingegen Geldstrafen in Höhe von umgerechnet knapp 51000 Euro für jeden ihrer Kunden, der durch diese Machenschaften geschädigt wurde.

Gegenüber der staatlichen Presseagentur AVN bestätigten Kunden der Wohnungsbauunternehmen die Vorwürfe des Präsidenten. Man habe den Käufern neue Verträge aufgezwungen, in denen höhere Preise festgelegt worden seien, als ursprünglich vereinbart wurden. Wer sich dagegen wehren wollte, mußte damit rechnen, daß die Wohnung an einen anderen verkauft würde, wobei die eigenen Einlagen trotzdem verloren wären. Einige Unternehmen ließen sich offenbar sogar Gerichtsbeschlüsse ausstellen, durch die es den Geprellten verboten wurde, sich den Baustellen zu nähern.

Unterdessen kündigte Chávez auch die Verstaatlichung des Stahlproduzenten Sidetur an, der unter anderem Stahlträger und andere Produkte herstellt, die für den Wohnungsbau benötigt werden. Das Unternehmen habe das Metall als Rohstoff billig aufgekauft, die Endprodukte dann jedoch überteuert auf den Markt geworfen, kritisierte der Staatschef. Er ordnete an, daß die Nationalgarde sofort die Kontrolle über die betroffenen Werke übernehmen solle. Zugleich versicherte er den dort Beschäftigten den Schutz ihrer Arbeitsplätze: »Diese Regierung ist eine proletarische, eine Regierung der Arbeiter. Diejenigen, die euch und eure Väter und Großväter bis aufs Letzte ausgebeutet haben, sind die Angehörigen der Bourgeoisie. Ich bin mir sicher, daß wir mit der Unterstützung der großen Mehrheit der venezolanischen Arbeitermassen rechnen können.« Dem stimmte Sidetur-Gewerkschafter Ángel López zu. Durch die Verstaatlichung erführen die Arbeiter endlich Gerechtigkeit. Seit Jahren hätten sie sich gegen die Verletzung von Arbeiterrechten und schlechte Arbeitsbedingungen gewehrt, so López. Bereits vor zwei Jahren hatte Chávez das Stahlunternehmen Sidor wieder verstaatlicht, das 1997 privatisiert worden war.

Die Wohnungsfrage hatte auch bei der jüngsten Reise des Präsidenten durch Europa und den Mittleren Osten eine zentrale Rolle gespielt. Vor allem mit der iranischen Regierung vereinbarte Chávez den Bau von bis zu 50000 weiteren Wohnungen in Venezuela, nachdem iranische Unternehmen in den vergangenen Jahren bereits 10000 errichtet hatten.

Erschienen am 2. November 2010 in der Tageszeitung junge Welt und am 5. November 2010 in der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek