Querschüsse gegen Verfassungsreform

Am 5. November trat Venezuelas früherer Verteidigungsminister Raúl Isaías Baduel vor die oppositionellen Medien, um zu einer Ablehnung der Verfassungsreform aufzurufen, die er mit dem Staatsstreich vom 11. April 2002 verglich. Für Präsident Hugo Chávez war dieser Auftritt Baduels Verrat – „an sich selbst und an einer jahrzehntelangen Freundschaft“, die ihn selbst mit Baduel verbunden hatte. Die meisten Anhänger des Präsidenten teilen diese Einschätzung, zumal Baduel nur 18 Tage vor seinem Auftritt die Verfassungsreform noch wortreich verteidigt hatte. Nicht so der in Mexiko lehrende deutsche Soziologie-Professor Heinz Dieterich, der von manchen deutschen Linken für einen Berater der venezolanischen Regierung gehalten wird.

 

In einem Artikel für das spanische Online-Magazin rebelion.org fordert Dieterich Chávez auf, einen Kompromiss mit Baduel zu schließen. „Die Behauptung, er (Baduel) habe sich mit seiner Positionierung am 5. November selbst aus dem bolivarischen Projekt des Präsidenten ausgeschlossen, ist der Schlüssel, um die gegenwärtige Situation zu verstehen. Baduel konnte sich nicht selbst aus dem Regierungsprojekt ausschließen, denn er war bereits ausgeschlossen. Er war an den Rand gedrängt, und die Hauptverantwortung für diese Ausgrenzung liegt bei der Regierung“, schreibt Dieterich. Dabei war Baduel in der venezolanischen Öffentlichkeit nach wie vor präsent gewesen und es wurde sogar spekuliert, er könne Gouverneur eines Bundesstaates werden.

Dann macht sich Dieterich selbst zum Sprachrohr für die üblichen Klagen der Opposition: „Die Beobachter haben recht, die darauf hinweisen, dass es unmissverständliche öffentliche Signale für die Besorgnis Baduels gegenüber der Entwicklung des bolivarischen Projektes gab, die er sah, so der mangelnde Erfolg im Kampf gegen die Korruption, die inflationäre Entwicklung der Wirtschaft, das Verschweigen der Benutzung der Einnahmen von PdVSA und das Fehlen einer Definition der Institutionalität des Sozialismus des XXI. Jahrhunderts.“

Baduel hatte wochenlang Zeit, Einfluss auf die Verfassungsreform zu nehmen. In dieser Zeit hatte sich der General a. D. aber hinter die Verfassungsänderungen gestellt, sogar die Einschränkung von Grundrechten im Ausnahmezustand (Art. 337) wurde von ihm mit Verweis auf die Erfahrungen des Putsches vom April 2002 verteidigt. Baduel wartete ab, bis die Nationalversammlung am Freitag, 2. November, die Reform offiziell beschlossen hatte, bevor er am ersten Werktag danach, am Montag, den 5., an die Öffentlichkeit trat. Für Dieterich war dies ein geschickter Schachzug Baduels: „Eine Erklärung dieser Art musste ihm sofort ein weltweites Medienforum und innerhalb Venezuelas die Führung im politischen Zentrum geben, die das Land derzeit nicht hat.“

Gleichzeitig erhöht Dieterich den Druck auf die venezolanische Regierung, wenn er – ohne jede Begründung – schreibt: „Wenn der Präsident das Referendum nicht gewinnt oder wenn er es nicht mit mindestens 60 Prozent gewinnt, wäre er gezwungen, Neuwahlen einzuberufen.“ Warum? Das sagt der Soziologe nicht.

Dann kommt Dieterich zum Kern seines Anliegens: „Um diese unsichere Zukunft zu vermeiden und zu verhindern, dass die Rechte und der Imperialismus die Macht in Venezuela an sich reißen können, wird es notwendig sein, dass Chávez und Baduel zu einem ausgehandelten Abkommen gelangen, das auf einer strategischen Allianz zwischen dem politischen Zentrum des Landes und dem Bolivarismus beruht. Es wäre angemessen, aufzuhören, die neue Verfassung anzubeten …“ Und weiter: „Es ist offensichtlich, dass die neue Verfassung nicht notwendig ist, um den antiimperialistischen und Volkscharakter des bolivarischen Prozesses voranzubringen, den der Präsident auf nationaler und internationaler Ebene anführt, und sie ist auch nicht notwendig, um zum Sozialismus des XXI. Jahrhunderts voranzuschreiten“. Wir können hinzufügen: Wie ihn Dieterich versteht, denn in der Tat hat der von ihm in seinem gleichnamigen Buch beschriebene „Sozialismus des XXI. Jahrhunderts“ wenig mit dem sozialistischen Ziel zu tun, wie es von Chávez und der revolutionären Bewegung in Venezuela angestrebt wird und wie es auch in den Verfassungsänderungen deutlich wird. Im Gegensatz zu Dieterichs Vorstellungen spielt das Eigentum an den Produktionsmitteln nämlich in Venezuela durchaus eine Rolle, weshalb die Verfassungsreform die verschiedenen Eigentumsformen festschreibt und das Privateigentum nur noch eine von verschiedenen Eigentumsformen ist. Endgültig suspekt ist Dieterich die Stärkung der Volksmacht, wie sie in der Verfassungsreform vorgesehen ist, denn in allen seinen Analysen beschränkt sich Dieterich praktisch ausnahmslos darauf, das Interagieren zwischen den Eliten zu diskutieren, Parteien und Führer sind ihm wichtig, die Volksbewegungen tauchen nicht auf. So behauptete er noch ein halbes Jahr vor dem Wahlsieg Rafael Correas in Ecuador, es gäbe in dem Andenland keine organisierte politische Kraft, die einen Siegeszug des Pentagon in Ecuador verhindern könne.

Dieses völlige Ignorieren der Volksbewegungen hat ihm nach seinen jüngsten Äußerungen auch scharfe Kritik aus Venezuela und ganz Lateinamerika eingebracht. So schreibt Carlos Angulo Rivas von Schweden aus im Online-Magazin rodelu.net: „Baduel hat mit seiner Erklärung seinen endgültigen Weg gewählt, er will die faschistischen und konterrevolutionären Kräfte des Nein stärken, er versucht, den politischen Raum der Gemäßigten zu besetzen, das so genannte ´Zentrum´, schon seit geraumer Zeit spricht er sich für die Versöhnung mit der entmachteten Oligarchie aus. Hoffentlich wird er nicht zu einem venezolanischen Huber Matos, jenem (kubanischen) Ex-Guerillero, der zu einem von der CIA finanzierten internationalen Terroristen wurde. Offen gesagt, nur ein umfassendes und vollständiges öffentliches und ehrliches ´mea culpa´ von Baduel könnte ihn als bolivarischen Mann wieder aufbauen.“

Auf aporrea.org, dem einflussreichsten Onlineportal der venezolanischen Linken, äußert Julio Mosquera sogar die Vermutung, Dieterich habe Baduel die Rede geschrieben. Dieterichs Artikel interpretiert er dabei als Beleg für diese These, die er bereits am Tag nach Baduels Auftritt geäußert hatte. Am 6. November hatte Mosquera darauf hingewiesen, dass Dieterich bereits im August die Vorarbeit für die jetzige Situation geleistet habe, als er Baduel in einem Artikel auf eine Stufe mit Hugo Chávez und Raúl Castro stellte und es so darauf anlegte, Baduel als mögliche Alternative oder möglichen Nachfolger für Chávez aufzubauen. „Dieterich sucht den militärischen Führer, der auf undemokratischem Weg seinen Vorschlag vom Sozialismus des XXI. Jahrhunderts voranbringt. Dieser basiert auf einem blinden Glauben an die Wissenschaft und auf einer Geringschätzung des Volkes“, kommentiert Mosquera in seinem Artikel.

Erschienen in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit vom 16. November 2007