„Chávez ruft zu einer lateinamerikanischen Revolution auf“

Interview mit der Kommunistischen Jugend Venezuelas vom 5. Oktober 2003

David Velasquez (25) ist Generalsekretär der Kommunistischen Jugend Venezuelas (JCV) , Sonia Romero (24) ist Mitglied des Zentralrates des Verbandes. Beide gehören auch dem ZK der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) an. Ich traf die beiden im Sitz der Alphabetisierungskampagne „Mission Robinson“, bei der beide derzeit beschäftigt sind. Mit dieser Kampagne ist es dem revolutionären Venezuela gelungen, bis Jahresende 1,1 Millionen Menschen Lesen und Schreiben beizubringen – von 1,5 Millionen Analphabetinnen und Analphabeten, die es in Venezuela bislang gab.

Wer ist die JCV und wir arbeitet ihr?

David: Die Kommunistische Jugend Venezuelas wurde am 16. September 1947 gegründet, hat also gerade ihren 56. Geburtstag begangen. Sie ist eine Hilfsorganisation der Kommunistischen Partei zur Arbeit unter der Jugend, die Kaderreserve. Wir arbeiten autonom, aber unter der Anleitung durch die Partei. Geld bekommen wir kaum von der Partei und nichts vom Staat, wir finanzieren uns durch die Mitgliedsbeiträge, Spenden und Veranstaltungen. Leider gibt es auch noch zu wenig internationale Solidarität.

Bei unserem letzten Kongreß im Juni diesen Jahres hatten wir 1500 aktive Mitglieder, davon etwa die Hälfte Studentinnen und Studenten, aber der Anteil junger Arbeiter an der Mitgliedschaft ist gestiegen. Es ist uns in den vergangenen Jahren, seit 1996, gelungen, den Jugendverband neu zu organisieren, nachdem wir erkennen mußten, daß wir seit etwa 1992 von der Polizei unterwandert worden waren. Wir führten eine gründliche Untersuchung durch und schmissen die Spitzel aus dem Verband. Damals hatten wir nur noch 500 Mitglieder, und auch die Kommunistische Partei war in einer schweren Krise.

Sonia: Unsere Öffentlichkeitsarbeit läuft zur Zeit hauptsächlich über unsere Homepages (http://www.jotaceve.org und http://caracas.jotaceve.org), aber das ist ein Problem, denn die meisten Menschen hier haben keinen Zugang zum Internet. Ansonsten verteilen wir Flugblätter auf der Straße. Wir könnten eine ganze Menge tun, aber uns fehlt einfach das Geld. Auch unsere Zeitung „Joven Guardia“ soll wieder erscheinen. Die meisten unserer Gruppen haben ihre kleinen Zeitungen, aber wir brauchen wieder ein zentrales Organ. Wir wollen die Zeitung selbst finanzieren und haben dafür jetzt eine Kampagne begonnen. Eine erste Nummer der „Joven Guardia“ erschien bereits zum Kongreß im Juni, die erste reguläre Nummer soll im Dezember erscheinen.

1992 versuchte Hugo Chávez mit einer Gruppe von Soldaten, die damalige Regierung zu stürzen. Wie habt ihr diesen Putschversuch damals bewertet?

David: Unser Jugendverband war damals wegen der Unterwanderung durch die Polizei lahmgelegt. Aber die Partei hat die Aktion von Chávez politisch unterstützt und in der Zeitung „Tribuna Popular“ eine entsprechende Erklärung veröffentlicht. Aber auch die Partei befand sich damals in einer schweren Krise und konnte keine große Rolle spielen, wobei uns auch niemand darum gebeten hat. Es war dann aber die Kommunistische Partei, die Hugo Chávez schon 1997 als Präsidentschaftskandidaten ausgerufen hat, vor allen anderen, sogar noch vor der Gründung von Chávez‘ eigener Partei MVR.

Nach seiner Wahl am 6. Dezember 1998 proklamierte Hugo Chávez die Bolivarianische Revolution. Was bedeutet diese Revolution für euch?

David: Etwa 1999/2000 bekamen viele junge Leute Hoffnung auf einen neuen Weg. Es gab damals mit der Stiftung „Juventud y Cambio“ (Jugend und Veränderung) einen guten Ansatz, der die Jugend mobilisieren konnte. Der Höhepunkt war damals das neue Jugendgesetz. Aber leider schlief die Stiftung dann ein, seit 2001 gab es fast zwei Jahre lang praktisch keine Jugendpolitik des Staates, obwohl materiell einiges getan wurde. Aber die Staatsstrukturen sind noch nicht bereit, sich für die Mitwirkung der Jugend zu öffnen, auch im kulturellen Bereich passiert zu wenig. Vielleicht ändert sich das jetzt mit dem Nationalen Jugendinstitut, das im März gegründet wurde.

Der Putsch im April 2002 (damals stürzte das Oberkommando der Streitkräfte die Regierung, nahm Präsident Chávez gefangen und erklärte den Boss vom Unternehmerverband Fedecámaras zum neuen Präsidenten. Ein Aufstand von mehreren Millionen Menschen und das Eingreifen loyaler Truppenteile sorgte innerhalb von 48 Stunden für ein Scheitern des Staatsstreiches; Anm. d. Red.) war ein wirkliches Aufwecken. Zuvor hatte es zu wenig Mobilisierung in Caracas gegeben, zu den großen Demonstrationen kamen hauptsächlich die Menschen aus dem Hinterland Venezuelas, kaum aus Caracas. Aber seit dem Putsch gibt es eine riesige Mobilisierung auch in der Hauptstadt. Es geht uns jetzt darum, den Geist des 13. April, des Aufstands gegen die Putschisten, zu bewahren. Mehr als 100.000 Menschen haben sich als Freiwillige für die Alphabetisierungskampagne Mission Robinson gemeldet, davon sind 80 Prozent Jugendliche. Im Oktober startet außerdem die Bolivarianische Universität in Caracas ihre Vorbereitungskurse mit 4000 Studierenden, der reguläre Betrieb beginnt im Januar. Und die dreifache Zahl von Leuten wartet schon.

Sonia: Vor der Revolution wurde das gesamte Bildungssystem privatisiert, alle mußten Studiengebühren bezahlen, jetzt niemand mehr. Das selbe gilt für das Gesundheitswesen: wer nicht zahlen konnte, wurde nicht in das Krankenhaus eingewiesen oder dort nicht behandelt. Und in den Bussen und in der Metro zahlen Schüler und Studierende jetzt nur noch 30 Prozent, das ist ganz wichtig für die Leute aus den Satellitenstädten, die sonst den Weg zur nächsten Bildungseinrichtung gar nicht bezahlen könnten.

David: All das betrifft die Jugend ganz direkt, das Leben verbessert sich. Die alten öffentlichen Verkehrsmittel werden ausgebaut, womit die Mobilität garantiert wird. Mit dem Zug braucht man etwa eine Viertelstunde in die Vororte, mit dem Auto oft anderthalb Stunden! Die Verkehrsmittel sind übrigens privat, aber der Staat reguliert die Preise.

Sonia: Die Grundschulbildung wird auch verbessert. Früher konnte man zum Beispiel Englisch und Informatik nur in den Privatschulen lernen.

Es gibt Teile der Bevölkerung, die keine Venezolaner sein wollen, die sich auf die USA ausrichten. Das hat ganz konkrete Folgen, zum Beispiel ihre englischen Transparente auf den Demonstrationen der Opposition, manchmal wurde sogar gefordert: „Bush, wirf eine Bombe auf Chávez!“

Bei dem Putsch im Dezember 2002 und Januar 2003 (gemeint ist der „Generalstreik“ der Opposition und die Sabotage der staatlichen Erdölindustrie) versuchten sie, die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zu blockieren und Unruhe zu schaffen. Sie wollten eine soziale Explosion. Damit kamen sie bei der Bevölkerung nicht durch. Das Niveau des Volkes ist so hoch, es ist so bewußt und organisiert, daß es sich nicht aufhetzen ließ. Dabei wäre es, wenn nötig, durchaus zu einem Aufstand bereit, wie es 1989 beim Caracazo gezeigt hat (damals lösten Preiserhöhungen einen Massenaufstand aus, der von der damaligen Regierung blutig niedergeschlagen wurde).

Wie habt ihr den Putsch im April 2002 erlebt?

Sonia: David war im Präsidentenpalast Miraflores, ich war zu Hause gewesen und machte mich gerade auf den Weg zum Palast, um mich am Schutz zu beteiligen, da sah ich im Fernsehen die Schüsse. Die Genossen riefen mich aus dem Palast an, nicht dort hinzukommen: „Wir sind eingeschlossen, es wird geschossen!“ Wir säuberten die Unterlagen der JCV und der Partei und ergriffen die notwendigen Maßnahmen zur Sicherheit unserer Mitglieder. Es war kaum etwas organisiert, um die Bevölkerung zu schützen, wir fühlten uns schutzlos und konnten uns auch an keine Medien wenden. Uns war klar, zuerst jagen sie die Kommunisten.

Ich weinte, bewegte mich in meinem Viertel, traf mich mit Leuten, diskutierte. Im Fernsehen dann immer diese Bilder, die Generäle, die Panzer, die Meldung, daß Chávez gefangen sei, die Selbsternennung von Carmona (dem von den Militärs eingesetzten „Präsidenten“) ich weinte, weinte. Polizei kam und durchsuchte das Gebäude, in dem ich wohne, kamen aber nicht in meine Wohnung. Daraufhin verließ ich die Stadt und ging zu einer Freundin.

Im ganzen Land gab es riesige, stundenlange Cacerolazos, diese Demonstrationen, bei denen die Leute auf ihre Kochtöpfe schlagen, es war gigantisch. Die Leute gingen auf die Straße: ¡Viva Chávez! Im Fernsehen konnte man davon nichts sehen, sie zeigten Telenovelas und Zeichentrickfilme. Meine Freundin hatte Kabelfernsehen, so daß wir zumindest CNN sehen konnten. Und da sahen wir dann den Generalstaatsanwalt Isaías Rodríguez bei seiner Pressekonferenz: Der Präsident ist nicht zurückgetreten! Er hatte die venezolanischen Fernsehsender dazu gekriegt, daß sie ihn auftreten ließen, weil er angekündigt hatte, er selbst wolle zurücktreten. Nachdem er die Meldung, daß Chávez nicht zurückgetreten ist, gesagt hatte, brachen die Privatsender überstürzt die Übertragung ab, aber da war es schon zu spät.

Als ich am 13. April merkte, daß die Leute aus den armen Vierteln begannen, von den Berghängen spontan nach unten, in die Stadt zu gehen, ging ich auch mit. Da war nichts ideologisches bei den Menschen, da war einfach die Verbundenheit zum Präsidenten. Die Autobahnen waren voller Menschen, es gab einen Aufstand der loyalen Streitkräfte um die Generäle Baduel und Garcia Carneiro. Die Präsidentengarde nahm den Palast ein, die Putschisten hauten ab, Millionen von Menschen blieben auf der Straße. Radio und Fernsehen schwiegen, aber wir informierten uns über CNN und Radio Habana Cuba. Im ganzen Land waren die zentralen Plätze voller Menschen, die drohten: Wenn ihr Chávez tötet, kommen wir in eure Viertel!

Es gab in diesen Tagen mehr als 60 Tote in Caracas, eine brutale Unterdrückung, Razzien, aber sie hatten nicht genug Zeit, um alles zu tun, was sie wollten. Es war ein brutaler Staatsterror, aber sie erreichten ihr Ziel nicht.

David: Wir blieben am 11. April bis Mitternacht im Präsidentenpalast Miraflores. Es war eine gefährliche Situation: dort waren der Generalsekretär der Partei, der Generalsekretär des Jugendverbandes, der Organisationssekretär der Partei. Und die Genossen waren gut erkennbar: in rot gekleidet, mit der roten Fahne. Wir schickten die Genossen nach Hause, als wir die Information bekamen, daß über Chávez‘ Übergabe verhandelt wurde. Wenn es nicht so schnell geklappt hätte, die Putschisten zu besiegen, wäre es zu noch sehr viel mehr Gewalt gekommen, wie wir es aus Kolumbien kennen. Die Leute waren zu allem bereit: Zeigt uns den Rücktritt des Präsidenten, sonst bringen wir euch um!

Sonia: Deshalb könnte ich schreien, wenn ich das Gerede von Versöhnung höre. Nein, mit den Putschisten gibt es keine Basis für Versöhnung!

Wie geht es jetzt weiter?

David: Chávez vertritt mittlerweile offen antiimperialistische Positionen und ruft zu einer lateinamerikanischen Revolution auf. Weil es nicht möglich war, eine Allianz mit Peru und Ecuador zu schaffen, hat er sich nach Süden gewandt und verbindet sich jetzt mit Argentinien, Brasilien, Paraguay.

Der Jugendverband von Chávez‘ Partei MVR (Bewegung Fünfte Republik), die JVR, ist jetzt eine offiziell mit dem WBDJ befreundete Organisation. Sie wollte sogar Mitglied des WBDJ werden, erfüllt aber die organisatorischen Bedingungen für eine Aufnahme noch nicht. Zwischen der JCV und der JVR gibt es gute Beziehungen, vor allem jetzt, nachdem die JVR ihre früher etwas rechtslastige Führung ausgewechselt hat. Mit der neuen Führung gibt es eine gute Zusammenarbeit, und die brauchen wir auch, denn 2005 wollen wir die nächsten Weltfestspiele der Jugend und Studenten ausrichten.

Der Gedanke kam schon bei den letzten Weltfestspielen in Algier auf, aber weder die Kubaner noch wir waren davon überzeugt, wir brauchten Zeit. Ab 2002 begannen wir dann Gespräche mit den zuständigen Regierungsstellen zu führen, dabei blieb erstmal alles zu unverbindlich. Deshalb haben wir bei der WBDJ-Vollversammlung im Februar diesen Jahres noch keinen offiziellen Vorschlag unterbreitet. Im April diesen Jahres gab es ein Treffen zwischen uns und dem kubanischen Jugendverband und anschließend trafen sich die kubanischen Genossen mit Chávez und dort gab der Präsident grünes Licht. Unser Kongreß im Juni beschloß dann offiziell, dem WBDJ den Vorschlag zu unterbreiten, die nächsten Weltfestspiele in Venezuela zu veranstalten. Die lateinamerikanischen WBDJ-Mitgliedsverbände unterstützen den Vorschlag bereits, die endgültige Entscheidung fällt dann bei der Vollversammlung im Februar.