Provozierte Eskalation

Es waren Bilder wie aus einem Bürgerkrieg: Schwerbewaffnete Angehörige paramilitärischer Sondereinheiten beteiligten sich mit Schnellfeuergewehren an der Erstürmung eines Stadtviertels. Tausende Menschen wurden von der Außenwelt abgeschnitten, weil Straßen gesperrt und Bahnverbindungen eingestellt waren. Räumpanzer und Wasserwerfer sowie Tausende für den Straßenkampf ausgerüstete Polizisten bezogen Stellung. Das Schanzenviertel wurde am Wochenende zum Schauplatz einer Machtdemonstration des Polizeistaates.

Zwei Nächte in Folge stürmten die Einsatzkräfte Straßen und Häuser in dem für sein alternatives und multikulturelles Ambiente bekannten und beliebten Stadtteil. Auslöser dafür war nach Darstellung der Polizei vom Freitag, dass »Störer« – in den Medien wurde das gleichgesetzt mit »militanten Autonomen« – in dem Viertel randaliert und Drogeriemärkte geplündert hätten. Die Rede war davon, dass auf den Dächern Molotowcocktails und Gehwegplatten deponiert worden sein sollen, um sie auf Polizisten zu werfen – vorgeführt wurden diese von der Polizei jedoch bislang nicht. »Ich bin fassungslos, dass linksradikale Straftäter offenkundig keine Hemmung haben, sehenden Auges das Leben von Polizeibeamten zu gefährden«, wetterte trotzdem der CSU-Innenexperte Stephan Mayer. Bild schlagzeilte am Sonnabend: »Keiner stoppt den linken Hass!«

Es war nicht auszuschließen, dass nach den tagelangen Übergriffen der Polizei auf die friedlichen Protestdemonstrationen gegen den G-20-Gipfel einige Leute die Nerven verlieren, um in ihrer Wut zu nützlichen Idioten der Staatsmacht zu werden. Auf die teilweise offen rechtswidrigen Polizeieinsätze gegen die Camps und gegen spontane Kundgebungen hatten die Aktivisten durchgehend besonnen reagiert und damit das Konzept der Sicherheitskräfte durchkreuzt. Selbst die autonome Demonstration »Welcome to Hell« am Donnerstag lieferte den Boulevardmedien nicht die gewünschten Bilder – dafür aber Kommentare in Medien wie Deutschlandfunk und NDR, dass die Polizei die Gewalt provoziert habe. Die Scharfmacher brauchten jedoch die Eskalation.

Ohnehin lassen Augenzeugenberichte das, was am Freitag und Sonnabend im Schanzenviertel und der Umgebung geschah, in einem anderen Licht erscheinen als die Auskünfte von Polizei und Senat.

Am Neuen Pferdemarkt und im »Arrivati-Park« unweit des U-Bahnhofs Feldstraße hatten sich am Freitag abend etwa 1.000 Gegner des G-20-Gipfels versammelt. Obwohl von ihnen keine Gewalt ausging, wurden sie von der Polizei mit Wasserwerfern und Pfefferspray attackiert. Viele Demonstranten zogen sich daraufhin in das Schanzenviertel zurück, vereinzelt flogen Flaschen und Böller. Während die Scharmützel auf dem Platz weitergingen, ließ sich im Schanzenviertel über Stunden keine Polizei blicken. Sogar als auf der Straße Schulterblatt an drei Stellen Feuer entzündet wurden, reagierte weder die Feuerwehr noch die Polizei. Ebenfalls frei war der Weg zu den Messehallen, dem Austragungsort des G-20-Gipfels – trotzdem nutzte niemand diese »Chance«. Unter den mehreren tausend Menschen, die sich im Viertel auf den Straßen aufhielten, waren linke Aktivisten kaum zu sehen. Statt dessen allerdings Personen, die von Anwohnern als Fußballhooligans beschrieben wurden. In der Sternstraße wurde der Hitlergruß gezeigt, in der Bartelsstraße wurde ein Geschäft mit Antifa-T-Shirts im Schaufenster offenbar gezielt attackiert. Nach »Linken« klingt das nicht.

Kurz vor Mitternacht stürmte die Polizei das Schanzenviertel. Wasserwerfer, Räumfahrzeuge und Polizeiketten drangen in das Viertel vor. Beteiligt waren auch Angehörige von Sondereinsatzkommandos mit Schnellfeuergewehren. Es flogen Steine, Flaschen und Feuerwerkskörper. Ein Polizei­helikopter richtete seinen Scheinwerfer auf die Szenerie. Tränengas lag in der Luft.

In der Roten Flora wurden in der Nacht Verletzte versorgt. Spiegel online zitierte den Sprecher des Veranstaltungszentrums, Andreas Blechschmidt, mit der Aussage, die »sinnbefreite Gewalt« sei Selbstzweck und falsch.

Der Tag danach begann zunächst ruhig. Zehntausende Menschen beteiligten sich an der Großdemonstra­tion gegen den G-20-Gipfel von den Deichtorhallen zum Millerntor. Trotz wiederholter Polizeiübergriffe blieb der Zug geschlossen und mündete in ein fröhliches Volksfest.

Zugleich wiederholte sich jedoch das Muster vom Vortag. Gegen 19 Uhr hatte eine Beweis- und Festnahme­einheit der Polizei die Eingänge des Flora-Parks am Schulterblatt abgesperrt und durchkämmt. Es wurden mehrere Menschen kontrolliert, von einigen wurden die Personalien aufgenommen. Herumliegende Rucksäcke wurden durchsucht. Offenbar wurden zwei Menschen festgenommen. Zwei Stunden später hatte sich die Lage jedoch wieder beruhigt. Tausende Menschen, vor allem Touristen und Partygänger, bevölkerten das Schulterblatt und die Seitenstraßen des Schanzenviertels. Es herrschte eine merkwürdig angespannte, sich zugleich jedoch nach einem typischen Wochenendvergnügen anfühlende Atmosphäre. Zu sehen waren weder Polizei noch »Autonome«.

Am Neuen Pferdemarkt ging die Polizei am späteren Abend dann wieder mit Wasserwerfern gegen dort vollkommen gewaltfrei versammelte Menschen vor. Selbst die Hamburger Morgenpost empörte sich über das Vorgehen der Polizei gegen friedlich auf der Straße sitzende Jugendliche. Viele wurden in die Straße Schulterblatt getrieben und saßen damit in der Falle. Denn auf der entgegensetzten Seite, an der Altonaer Straße, versperrten Polizeiketten, Wasserwerfer und ein Räumpanzer den Fluchtweg.

Im Gespräch mit junge Welt zeigten sich Opfer des Polizeieinsatzes entsetzt. Ein englischsprachiger Tourist war fassungslos: »Die Menschen haben einfach nur auf der Straße gesessen und getrunken, da war nichts!« Ein anderer Mann, der sich eine Verletzung an der Hand zugezogen hatte, berichtete, dass er mit fünf Bekannten vor einer Gaststätte gesessen habe, als plötzlich und ohne jeden Anlass Polizisten die Straße gestürmt hätten. »Das war eine reine Provokation«, sagte er. Niemand dürfe sich wundern, wenn nach diesem Vorgehen die Lage in der Nacht endgültig eskaliert sei.

Verfasst gemeinsam mit Georg Hoppe und Lina Leistenschneider

Erschienen am 10. Juli 2017 in der Tageszeitung junge Welt