Protest ohne Grenzen

Der Ullstein-Verlag profiliert sich neuerdings mit Streitschriften: dünn, günstig und streitbar. Den Auftakt machte Anfang Februar »Empört Euch!« von Stéphane Hessel, das Manifest der Protestbewegung in Spanien, Griechenland und andernorts. Als zweiter Band dieser gar nicht als Reihe geplanten Reihe ist in der vergangenen Woche »Vernetzt Euch!« von Lina Ben Mhenni erschienen. Das schmale, nur 48 Seiten starke Bändchen, kommt zunächst unscheinbar daher. »Erstmals in der Geschichte haben Blogs und soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter ein diktatorisches Regime zu Fall gebracht«, behauptet die Werbung auf dem Buchrücken. Tatsächlich hat die 27jährige Dozentin für Linguistik an der Universität Tunis mit ihrem Internetblog »A Tunisian Girl« in nicht zu unterschätzender Weise zum Sturz des Regimes von Zine El Abidine Ben Ali in Tunesien beigetragen. Sie gehörte zu denen, die das Internet nutzten, um über Ereignisse zu berichten, die in den vom Regime kontrollierten Medien nicht vorkamen – und die auch von den großen internationalen Senderketten erst aufgegriffen wurden, als Anfang dieses Jahres das Regime unter dem Druck einer breiten demokratischen Bewegung zu wanken begann.

Stimme erheben

Lina Ben Mhenni kann man die vom Verlag erfundene Werbung nicht vorwerfen. Sie selbst betont, daß kein Internetdienst das Regime gestürzt hat. Aber die letztlich unkontrollierbaren Medien hätten dazu beigetragen, das Schweigen über die Repression zu brechen. »Facebook kann keinen demokratischen Staat aufbauen, aber es kann dabei helfen«, unterstreicht die energische junge Frau im Gespräch mit junge Welt. Sie selbst sieht sich als Teil der Demokratiebewegung, nicht als beobachtende Journalistin. Und so beschreibt sie in ihrem Buch, wie sie mit einigen Reportern unterwegs durch Tunis war: »Hunderte Demonstranten zogen durch die Stadt und skandierten: ›Brot und Wasser, Nein zu Ben Ali!‹ Sofort habe ich meine Journalisten links liegenlassen und mich den anderen angeschlossen, anstatt zu filmen. Noch nie hatte ich mich derart mit Leib und Seele als Tunesierin gefühlt…«

Für den Ullstein-Verlag war es eine geschickte Marketingidee, das Buch von Lina Ben Mhenni in der gleichen Ausstattung und Gestaltung auf den Markt zu bringen, wie Hessels »Empört Euch!«. Doch für die Autorin ist das nur logisch. Stéphane Hessel habe sie selbst dazu gebracht, ihre Erfahrungen aufzuschreiben. Sie habe sich mit dem 93jährigen schließlich lange unterhalten, und er habe sie gebeten, daß die Aktivisten der jungen Generation ebenfalls die Stimme erheben. Auch sie selbst sieht einen Zusammenhang zwischen ihrer eigenen »Revolution« in Tunesien und den Protesten, wie sie jetzt in Spanien und Griechenland aufgekommen sind. So hätten sie selbst und ihre Bloggerkollegen die Aktivisten in Spanien unterstützt und seien auch selbst auf den Plätzen in Madrid, Barcelona und andernorts gewesen. »Das Internet kennt keine Grenzen«, betont sie mehrfach, auch wenn natürlich die spanische Regierung und das Regime von Ben Ali nicht vergleichbar seien.

Ganz nebenbei und für den Mainstream hierzulande unerwünscht, demonstriert Lina Ben Mhenni, daß die Generation der tunesischen »Revolutionäre« nicht aus einem politisch luftleeren Raum stammt, wie es inmitten des Hype um Twitter und Co. suggeriert wurde.

Angst überwunden

In ihrem Buch beschreibt sie: »Ich wurde in eine politisch engagierte Familie hineingeboren. Mein Vater hat in seiner Jugend sechs Jahre im Gefängnis verbracht, von 1974 bis 1980. Er war aktives Mitglied der tunesischen Linken unter Präsident Bourguiba. Schon als kleines Kind konnte ich leicht erkennen, welche Spuren die Folter auf seinem Körper hinterlassen hatte. Meine Mutter, die Lehrerin ist, gehörte der tunesischen Studentengewerkschaft UGET an. Bei uns zu Hause guckte man weder die end- und hirnlosen Telenovelas aus Ägypten oder Mexiko, die während meiner Kindheit im tunesischen Fernsehen liefen, noch die Fußballspiele, die von den meisten Tunesiern mit großer Begeisterung verfolgt werden.« So kannte sie das Lied, das die Gewerkschafter im vergangenen Dezember anstimmten, als sie sich gegen die Repression der Polizei wehrten: die »Internationale«. Und als sich ihr Vater an dem Tag, an dem Ben Ali schließlich die Flucht ergriff, den Demonstrationen anschloß, war sie »überglücklich« und berichtet: »Als er zu uns stieß, traute er seinen Augen nicht. Wir standen dicht neben dem Eingang des Innenministeriums, wo man ihn in den siebziger Jahren brutal gefoltert hatte. Ich betrachtete meinen Vater und spürte seine Freude. Er bat mich, das Gebäude zu fotografieren, als wollte er den Alptraum, den er durchlitten hatte, für immer bannen.«

Noch gibt es in Tunesien eine Internetpolizei, noch spinnen die reaktionären Kräfte um die offiziell aufgelöste frühere Regierungspartei RCD weiter ihre Fäden, so daß die Rufe nach einer »zweiten Revolution« lauter werden. Doch Lina Ben Mhenni weiß: »Das unterdrückte Volk hat seine Angst überwunden.«

Lina Ben Mhenni: Vernetzt Euch!. Ullstein Verlag, Berlin 2011, 48 Seiten, 3,99 Euro * Übersetzung: Patricia Klobusiczky

Erschienen am 20. Juni 2011 in der Tageszeitung junge Welt