Ohne Klassensubjekt

Am 20. Dezember wird in Spanien ein neues Parlament gewählt. Der Ausgang ist wenige Wochen zuvor noch offen. Zwar sagen alle Prognosen Ministerpräsident Mariano Rajoy und seiner postfranquistischen »Volkspartei« (PP) dramatische Stimmenverluste voraus – ihr 2011 erzieltes Ergebnis von 44,63 Prozent könnte sich diesmal nahezu halbieren –, doch für die Rechten gibt es inzwischen wieder Hoffnungen, auch in der kommenden Legislatur die Geschicke in Madrid lenken zu können. Grund dafür sind die Schwäche und die Zersplitterung der Linken.

Vier Blöcke liegen nach einer Anfang November von der Tageszeitung El País veröffentlichten Umfrage mit jeweils 20 Prozent gleichauf: die PP, die sozialdemokratische PSOE, die rechtsliberalen »Ciudadanos« (Bürger) und – zusammengezählt – die neue Partei Podemos (Wir können) und die Vereinigte Linke (IU).

Vor einigen Monaten sah das noch anders aus. Scheinbar unaufhaltsam legte Podemos in den Umfragen zu und wurde Anfang diesen Jahres zeitweilig mit rund 30 Prozent gehandelt. Sie schien die Chance zu haben, führende Kraft zu werden. Inzwischen werden der Partei von Pablo Iglesias aber nur noch 13 bis 14 Prozent vorausgesagt. Die IU rangiert bei 6,3 Prozent und schneidet damit besser ab als in den vergangenen Monaten.

Nun ist das politische Manifest von Parteichef Pablo Iglesias »Podemos! Wind des Wandels aus Spanien« auch in deutscher Übersetzung erschienen. Der Titel bezieht sich auf die Großkundgebung von Podemos im vergangenen Februar, als sich die Partei auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit befand: »Der Wind des Wandels bläst durch Europa, um Angela Merkel hingegen wird es einsam«, rief Iglesias damals mehreren hunderttausend Anhängern in Madrid zu. Nach dem Wahlsieg der griechischen Linkspartei Syriza sollte Spanien der nächste Dominostein werden.

Pablo Iglesias entwirft in seinem Buch das politische Programm seiner Partei. Es ist ein linkes Programm, das sich ausdrücklich auf die vom chilenischen Präsidenten Salvador Allende geprägte Maxime bezieht, dass Wahlen zu gewinnen nicht bedeutet, auch die Macht zu gewinnen. »Das Programm von Podemos stellt keine Maximalforderungen«, betont Iglesias. »Eine Steuerreform, eine Überprüfung der Schulden, die kollektive Kontrolle strategischer Wirtschaftsbereiche, die Verteidigung und der Ausbau öffentlicher Dienste, die Rückeroberung von Souveränitätsrechten und der Wiederaufbau eigener Industrien, beschäftigungspolitische Investitionen, eine nachfrageorientierte Politik und Garantien dafür, dass öffentliche Finanzinstitute kleine und mittlere Betriebe und Familien unterstützen – das alles sind Forderungen, wie sie vor dreißig oder vierzig Jahren jede sozialdemokratische Partei in Westeuropa verteidigt hätte. Doch heute stellen derartige Maßnahmen eine Gefahr für die internationalen Finanzmächte, für das deutsche Europa und für die Kaste dar.«

Mit »Kaste« sind die Politiker der etablierten Parteien gemeint, die sich im Parlament bereichern, statt ihre Wähler zu repräsentieren. Zahllose Korrup­tionsskandale, in die vor allem die PP und die sozialdemokratische PSOE, aber in einigen Fällen auch Politiker der IU und anderer Parteien verwickelt waren, haben die Glaubwürdigkeit der spanischen Volksvertreter nachhaltig erschüttert. Deshalb wehrt sich Podemos mit aller Kraft dagegen, ein politisches Etikett verpasst zu bekommen. Vor allem will man nicht »links« sein. Deshalb hat Podemos alle Vorschläge der IU abgelehnt, bei den Wahlen ein Bündnis einzugehen. Zugleich feierte man bei den Kommunalwahlen im Mai in Allianzen spektakuläre Erfolge und stellt nun unter anderem die Bürgermeisterinnen von Madrid und Barcelona.

Jedoch hat Podemos dieser Spagat nicht gutgetan. Von einer Regierungsübernahme ist inzwischen kaum noch die Rede, man wird nur noch als möglicher Juniorpartner der Sozialdemokraten gehandelt. Die IU, der das parlamentarische Verschwinden gedroht hatte, erstarkt allmählich wieder. Doch vor allem wurden die »Ciudadanos« zur neuen und von den Massenmedien hofierten Protestpartei. Für IU-Spitzenkandidat Alberto Garzón sind deren Vertreter »Jungs aus dem Ikea-Katalog«, die von den spanischen Konzernen ins Rennen geschickt worden seien, um einen Erfolg der Linken zu verhindern.

Auch der Journalist Raul Zelik hat sich intensiv mit Podemos auseinandergesetzt. Er hat nicht nur das Buch von Iglesias übersetzt, sondern parallel eine eigene Analyse der Partei vorgelegt: »Krise und Aufbruch in Spanien«. Er zeichnet den Aufbauprozess von Podemos ab 2013 nach und stellt fest, dass sich ihr Populismus in einem entscheidenden Punkt von vergleichbaren Phänomenen etwa in Venezuela oder Bolivien unterscheidet: »Es stimmt zwar, dass Chávez und Morales ›das Volk‹ adressierten, ihr Diskurs oft ambig, also mehrdeutig blieb (was ihn anschlussfähig machte) und sich ihre Bewegungen letztlich durch die Gegnerschaft (gegenüber den USA und den einheimischen Eliten) definierten. Aber ihre Projekte waren nur deswegen erfolgreich, weil sich in sozialen Kämpfen zuvor bereits ein Klassensubjekt formiert hatte.«

Nachvollziehbar und interessant geschrieben, zeichnet Zelik die Entwicklung der Partei von ihrer Entstehung infolge der Proteste der »Empörten« nach – von ihrem basisdemokratischen Aufbruch bis zur Etablierung einer strikten Kontrolle über den Apparat durch die Mannschaft um Iglesias. Eingebettet ist das in einen Gesamtüberblick über die politische Geschichte Spa­niens. Hier kann Zelik nicht verbergen, dass sich sein Interesse vor allem auf das Baskenland richtet, während er über die Details der politischen Landschaft Kataloniens weniger gut informiert ist.

Pablo Iglesias Turrión: Podemos! Wind des Wandels aus Spanien. Rotpunktverlag, Zürich 2015, 200 Seiten, 18,90 Euro

Raul Zelik: Krise und Aufbruch in Spanien. Bertz und Fischer Verlag, Berlin 2015, 221 Seiten, 9,90 Euro

Erschienen am 30. November 2015 in der Tageszeitung junge Welt