Nur 48 Stunden

Im Frühjahr 2002 war die innenpolitische Lage in Venezuela angespannt. Hugo Chávez regierte seit drei Jahren, und die Fronten in dem südamerikanischen Land hatten sich geklärt. Im Wahlkampf 1998 war Chávez noch von einem äußerst heterogenen Spektrum politischer Kräfte unterstützt worden. Diese reichten von radikalen Linken wie der Kommunistischen Partei (PCV) und früheren Guerilleros bis hin zu Konservativen, die sich von dem einstigen Militär, der 1992 einen Aufstand gegen die Regierung angeführt hatte, den Einzug von »Law and Order« in Venezuela versprachen. Teile der Kapitaleigentümer des Landes, die auch die allermeisten Massenmedien kontrollierten, glaubten, »die Bestie zähmen« zu können, wie es in einer Zeitung hieß. Sie versprachen sich von dem »Populisten«, daß er die Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit schönen Reden in Zaum halten würde, ohne ihre Privilegien anzutasten. Deshalb hatten sie ihn in der Endphase des Wahlkampfs wohlwollend unterstützt. Als Chávez dann am 6. Dezember 1998 als Sieger feststand, präsentierten ihm die bisherigen Eliten die Rechnung. Er selbst erinnert sich daran: »Eines Abends kam ein Vertreter dieser Kreise auf mich zu und sagte: ›Herr Präsident, hier bringen wir Ihnen eine Liste. Das sind unsere Kandidaten für die Ministerämter.‹ Ich schaute auf die Liste, und als erstes sah ich den Finanzminister, dann den Außenhandelsminister; weiter unten andere: den Präsidenten der staatlichen Industriebank, den Präsidenten der Telekommunikationsgesellschaft Conatel. Ich habe mir diesen Zettel natürlich gut aufgehoben und habe niemanden von denen, die sie mir vorgeschlagen hatten, ernannt.«

Ernst gemeinte Versprechen

Tatsächlich meinte es Chávez im Gegensatz zu den Hoffnungen seiner zeitweiligen Förderer ernst mit seinen Versprechen zur Neugründung der Republik durch eine verfassunggebende Versammlung und zur Umverteilung des Reichtums. Die politische Neugestaltung gelang in den ersten Monaten relativ reibungslos, die neue Verfassung wurde noch im Dezember 1999 mit überwältigender Mehrheit per Volksabstimmung angenommen. Doch ab 2001 begann Chávez, auch ökonomische Veränderungen des Landes in Angriff zu nehmen. Damit geriet er in offenen Konflikt mit den führenden Wirtschaftskreisen. Die privaten Massenmedien, die damals noch quasi ein Monopol hatten, entfesselten eine zügellose Hetze gegen den Staatschef, und der Unternehmerverband Fedecámaras verbündete sich mit dem sozialdemokratischen Gewerkschaftsbund CTV im Kampf gegen Chávez.

Die entscheidende Auseinandersetzung wurde um den Erdölkonzern PdVSA geführt. In den 70er Jahren war dieser verstaatlicht worden, und in den 90er Jahren aufgekommene Bestrebungen, ihn wieder zu privatisieren, waren durch den Wahlsieg Chávez’ vereitelt worden. Doch beherrscht wurde der Konzern durch eine kleine Schicht privilegierter und gut bezahlter Fachleute und Manager, in deren Taschen der Löwenanteil der Gewinne floß. Für den Staatshaushalt blieb kaum etwas übrig, Steuern wurden durch Abschreibungen auf angeblich oder tatsächlich unrentable Investitionen überall auf der Welt vermieden. So profitierte die Bevölkerung, die zu 85 Prozent in Armut lebte, nicht von den Einnahmen.

Als Chávez der »Meritocracia«, wie die Clique der Erdölherren genannt wurde, an die Privilegien ging und den damaligen Konzernchef Guaicaipuro Lameda Montero entließ, machte er sich erbitterte Feinde. Im April 2002 riefen Fedecámaras, CTV, Oppositionsparteien und praktisch alle Massenmedien zum Generalstreik auf. Offizielle Forderung war die »Verteidigung von PdVSA«, doch tatsächlich ging es kaum verhüllt um den Sturz des Präsidenten. Ab dem 9. April versuchten die Regierungsgegner deshalb, das Land – oder zumindest seine wirtschaftlichen Zentren – lahmzulegen. Das gelang ihnen nicht. Medienberichten zufolge blieben lediglich in den Vierteln der Mittel- und Oberschicht in der Hauptstadt Caracas die Geschäfte geschlossen. In anderen Teilen der Stadt und des Landes ging das Leben weitgehend normal weiter.

Doch die entscheidende Auseinandersetzung stand noch bevor. »Der Endkampf findet um den Präsidentenpalast Miraflores statt«, verkündete eine Oppositionszeitung am 10. April mit Blick auf eine für den folgenden Tag geplante Großdemonstration der Regierungsgegner. Diese sollte offiziell zum PdVSA-Sitz gehen, doch während des Marsches wurde sie plötzlich zum Regierungssitz umgelenkt, wo sich zu diesem Zeitpunkt bereits Tausende Anhänger des Präsidenten versammelt hatten. Die Eskalation war vorbereitet: Heckenschützen hatten sich auf den Hochhäusern im Zentrum der Stadt postiert. Als Oppositionelle und Regierungsanhänger nur noch wenige hundert Meter trennten, fielen Schüsse. Die Zahl der dabei getöteten Menschen wird inzwischen auf 19 beziffert. Die Opfer kamen von beiden Seiten, die meisten waren jedoch Unterstützer des Präsidenten. In den Medien wurde allerdings umgehend die Behauptung verbreitet, Chávez habe auf die unbewaffneten Oppositionellen schießen lassen.

Putsch der Militärs

Führende Militärs kündigten dem Präsidenten die Gefolgschaft auf und forderten seinen Rücktritt. Einheiten der Streitkräfte umstellten Miraflores. Die Generäle drohten, den Palast zu bombardieren. Um ein Blutbad zu verhindern, begab sich Chávez in die Hände der Militärs, die ihn an einen zunächst unbekannten Ort verschleppten. Doch einen Rücktritt unterzeichnete er nicht. Unter Bruch der Verfassung übernahm eine Junta aus Militärs und Oligarchen die Herrschaft, zum »Übergangspräsidenten« wurde der Chef des Unternehmerverbandes, Pedro Carmona, ernannt. Dieser löste mit einem Handstreich das Parlament, den Obersten Gerichtshof und andere Behörden auf und änderte kurzerhand den Namen des Landes, indem er das Wort »bolivarisch« strich.

Doch die Putschisten hatten nicht mit den einfachen Menschen des Landes gerechnet. Die Bevölkerung, die jahrzehntelang politisch marginalisiert gewesen war, hatte Mut geschöpft und war aufgewacht. Sie wollte sich den so hoffnungsvoll begonnenen Prozeß nicht durch die alten Herren stehlen lassen. Spontan und ohne sichtbare Führung gingen die Menschen auf die Straße, Tausende versammelten sich vor den Fernsehsendern, an den Militärbasen und vor dem Präsidentenpalast. Am Ende waren es Millionen, während in Maracay die Fallschirmjäger erklärten, das Carmona-Regime nicht anzuerkennen. Diese Rebellion gegen die Rebellion war militärisch entscheidend, denn damit war den Putschisten die Kontrolle über Venezuelas Luftwaffe entzogen. Die Herren, die es sich im Präsidentenpalast bequem gemacht hatten, flohen Hals über Kopf. Sogar die Präsidentenschärpe, die sich Carmona selbst über den Kopf gezogen hatte, wurde später gefunden. Sie trug einen Waschzettel mit der Aufschrift »Made in Spain«. Offenbar hatte sich der Kurzzeit-Staatschef die Schärpe bereits Wochen zuvor von einer Reise nach Spanien mitgebracht – ein Indiz gegen die bis heute gepflegte Legende, wonach die Ereignisse vom 11. April 2002 kein geplanter Putsch waren, sondern lediglich aus dem Ruder gelaufen seien.

Am Abend des 13. April kehrte Chávez per Hubschrauber in den Präsidentenpalast zurück. Der Aufstand des Volkes hatte den Staatsstreich innerhalb von 48 Stunden besiegt. Die kubanische Tageszeitung Granma würdigte das auf ihre Weise: Venezuela habe den kubanischen Rekord geknackt – in der Schweinebucht haben man 1961 noch 72 Stunden gebraucht, um die Imperialisten zu besiegen. Seither wird in Venezuela alljährlich am 13. April des Volksaufstandes gedacht – mit einer Losung, die die Opposition vor neuen Abenteuern warnt: »Jeder 11. bekommt seinen 13.!«

Erschienen am 11. April 2012 in der Tageszeitung junge Welt