Nicht nur virtuell

Mit Ausnahme des scheidenden Staatschefs von Kolumbien, Álvaro Uribe, und des unter starkem innenpolitischem Druck stehenden peruanischen Präsidenten Alan García werden wohl alle Staatschefs Südamerikas am heutigen Dienstag im argentinischen Los Cardales, rund 70 Kilometer von der Hauptstadt Buenos Aires entfernt, zusammenkommen. Dieses zweite reguläre Gipfeltreffen der Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) soll der 2008 gegründeten Organisation mit der Wahl eines Generalsekretärs festere Strukturen verleihen und dadurch der Kritik begegnen, Unasur sei lediglich ein »virtueller« Zusammenschluß ohne praktische Konsequenzen. Als erster Inhaber dieses neuen Amtes soll offenbar der frühere argentinische Präsident Néstor Kirchner bestimmt werden. Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño, dessen Regierung gegenwärtig die Unasur-Präsidentschaft innehat, sagte gegenüber der argentinischen Tageszeitung Página/12, Kirchners Kandidatur werde von zahlreichen Staatschefs unterstützt. Der 1950 geborene Kirchner, dessen Ehefrau Cristina Fernández amtierende Präsidentin Argentiniens ist, hatte über die Grenzen seines Landes hinaus Ansehen gewonnen, als er kurz nach seinem Amtsantritt im Mai 2003 damit begann, das Erbe der argentinischen Militärdiktatur aufzuarbeiten. Auch seine vorsichtige Abkehr von der Anbindung an Washington und die Zusammenarbeit mit anderen Regierungen Südamerikas stießen bei seinen Amtskollegen auf Wohlwollen.

Ein anderes Thema könnte hingegen Zündstoff in sich bergen. Die Staatschefs müssen sich auf einen gemeinsamen Umgang mit dem Regime in Honduras einigen. Bislang weigern sich die meisten Regierungen der Region noch, den durch unter Kontrolle der Putschisten durchgeführte Wahlen an die Macht gekommenen honduranischen Präsidenten Porfirio Lobo anzuerkennen, und auch die anhaltenden Berichte über Menschenrechtsverletzungen in dem zentralamerikanischen Land tragen kaum zu einer Normalisierung der Beziehungen bei. Erst am vergangenen Sonnabend hatte mehr als eine halbe Million Menschen bei der traditionellen Maidemonstration der Gewerkschaften für eine ungehinderte Rückkehr des gestürzten Präsidenten Manuel Zelaya und die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung sowie gegen die Wirtschaftspolitik der konservativen Regierung demonstriert.

Erschienen am 4. Mai 2010 in der Tageszeitung junge Welt