»Nicht der EU in die Hände fallen«

Gespräch mit Roger Castellanos, Nationaler Sekretär der katalanischen Partei Poble Lliure (Freies Volk)

Sie repräsentieren eine neue linke Organisation aus Katalonien, Poble Lliure (Freies Volk). Was ist das für eine Vereinigung?

Poble Lliure wurde am vergangenen 30. November nach langen Diskussionen von Angehörigen verschiedener Traditionen der früheren katalanischen linken Unabhängigkeitsbewegung gegründet. Wir verstehen uns als kommunistische Partei, deren Aufgabe es ist, junge Kader auszubilden und Strategien zu entwickeln. Wir arbeiten innerhalb der Massenorganisation »Kandidatur der Volkseinheit« (CUP). Diese ist derzeit in mehr als 100 Landkreisen der Països Catalans, der Katalanischen Länder, vertreten. Ich selbst gehöre zum Beispiel für die CUP in einer kleinen Gemeinde der Kommunalregierung an. Dabei sammeln wir Erfahrungen, zum Beispiel über die Möglichkeiten und Grenzen der Arbeit in den Institutionen – was ja ein in der Linken traditionell schwieriges Thema ist. Wir haben derzeit auch drei Abgeordnete im katalanischen Parlament. Aber die Arbeit in den Institutionen ist für uns als Volksbewegung nur eine weitere Front des Kampfes, unsere Arbeit findet vor allem auf der Straße statt.

Für uns ist wichtig, die internationalen Beziehungen zu entwickeln, um diese nicht der bürgerlichen Diplomatie zu überlassen, die die bürgerliche Convergència i Unió (CiU) und die kleinbürgerliche Esquerra Republicana (ERC), entwickeln, auch wenn beide Parteien derzeit im Kampf um die nationale Befreiung unsere taktischen Verbündeten sind. Für uns als Organisation der Arbeiterklasse ist der ideologische Kampf wichtig. Deshalb stellen wir der bürgerlichen Diplomatie das entgegen, was wir die Diplomatie der Rebellion nennen – die Beziehungen mit den Volksrepubliken, kommunistischen Parteien und revolutionären Organisationen aus aller Welt.

Sie haben bürgerliche Parteien als taktische Verbündete bezeichnet. Sind dann kommunistische Parteien in Katalonien, wie PSUC-viu oder Comunistes de Catalunya – die nicht für die Unabhängigkeit eintreten – taktische Gegner?

Nein. Wir stimmen in der wichtigen Frage überein, dass Katalonien das Recht auf Selbstbestimmung hat. Wir sind alle der Meinung, dass wir ein Referendum über die Unabhängigkeit durchführen müssen. Deshalb sind die anderen kommunistischen Parteien natürlich unsere Verbündeten. Wo wir vielleicht nicht mehr mit ihnen übereinstimmen, ist dann, wie wir bei diesem Referendum abstimmen. In sozialen Fragen stimmen wir dagegen natürlich mit der Kommunistischen Partei Kataloniens viel mehr überein, und wir haben immer betont, dass die nationale Frage nicht von der sozialen Frage getrennt werden kann. In diesem Zusammenhang ist für uns auch die Diskussion um die Europäische Union wichtig, denn wir wollen die vollkommene Unabhängigkeit. Es lohnt sich nicht, Madrid zu entkommen, um der EU in die Hände zu fallen.

Sie fordern also ein unabhängiges Katalonien, das weder der EU noch der NATO angehört?

Ganz genau: Unabhängigkeit von allen Machtinstrumenten des Imperialismus.

Bedeutet aber ein Unabhängigkeitsprozess, wie ihn Katalonien heute erlebt – unter der Hegemonie bürgerlicher Parteien – nicht lediglich das Austauschen einer Fahne durch eine andere und das Ersetzen von Ministerpräsident Mariano Rajoy durch Angela Merkel?

Deshalb ist für uns die Unabhängigkeit nicht das Ziel, sondern der Anfang. Die Eigenständigkeit ist die Voraussetzung für die Befreiung der Klasse. Die wirkliche Unabhängigkeit ist aber erst die Befreiung das katalanischen Volkes von jeder Form ausländischer Unterdrückung, seien es Spanien und Frankreich – die derzeitigen Besatzerstaaten – oder auch eine Struktur des Imperialismus wie die EU oder die NATO. Deshalb sprechen wir von der Ruptura, vom völligen Bruch, denn uns geht es nicht nur um ein Ende der juristischen und politischen Ordnung, sondern um grundlegende soziale Umgestaltungen. Dazu ist der Aufbau einer Katalanischen Republik der erste Schritt, aber unser Horizont ist die Katalanische Sozialistische Republik.

Bekannte Größen der katalanischen Großbourgeoisie, etwa Freixenet oder La Caixa, sprechen sich klar gegen die Unabhängigkeit aus. Dort steht unser Gegner, das ist deutlich geworden, und deshalb ist die Bewegung nach links gerückt. Wir sprechen von einer demokratischen Revolution.

Erschienen am 12. Februar 2015 in der Tageszeitung junge Welt