Neue Zeiten

In Europa würde sich Angela Merkel eine derartige Majestätsbeleidigung kaum mehr bieten lassen. Als sie am Wochenende beim EU-Lateinamerika-Gipfel in Santiago de Chile von den Staaten der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur Freihandel und den Abbau von Importbeschränkungen verlangte, wurde sie von Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández erstmal in die Warteschleife verbannt. Man werde bis Jahresende einen Vorschlag vorlegen, der aber nicht den Interessen des Mercosur widersprechen dürfe.

Das symbolisiert die veränderten Verhältnisse auf dem Kontinent ebenso wie die Tatsache, daß Havanna seit dem heutigen Montag die Hauptstadt Lateinamerikas ist. Kuba hat offiziell die jährlich wechselnde Präsidentschaft der im Dezember 2011 in Caracas gegründeten Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft (CELAC) übernommen. In ihr haben sich erstmals alle souveränen Staaten des Kontinents zusammengeschlossen, ohne dazu die USA und Kanada einzuladen. Das manifestiert nicht nur das neue Selbstbewußtsein, das die Staaten der Region in den vergangenen Jahren gewonnen haben. Es stellt ebenso – auch wenn das vor allem die rechten Regierungen des Kontinents bestreiten – die Existenzberechtigung der von Washington dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Frage. Dafür spricht auch die am Wochenende beim Gipfeltreffen getroffene Entscheidung, die Präsidentschaft der CELAC im Jahr 2015 Ecuador zu übertragen. Präsident Rafael Correa, an dessen Wiederwahl im Februar kaum jemand ernsthaft zweifelt, hat sich in der Vergangenheit bereits mehrfach öffentlich für eine Auflösung der OAS ausgesprochen.

Uruguays Präsident José »Pepe« Mujica, der für Brüssel und Berlin nicht gerade zu den Bösewichtern zählt, hat für die entfernten Verwandten aus Übersee kaum mehr als ein Achselzucken übrig. Europa brauche nicht mehr so viel Angst davor haben, »von unserer effizienteren Landwirtschaft überrollt« zu werden. Die wichtigsten Klienten der Südamerikaner lägen längst nicht mehr im Westen, sondern im Osten: »Der Hauptkunde Brasiliens, Argentiniens und von uns heißt Volksrepublik China«, so Mujica gegenüber dem Fernsehsender Russia Today.

Es wäre jedoch ein Fehler, die Einheit Lateinamerikas euphorisch überzubewerten. Längst toben hinter den Kulissen Auseinandersetzungen um den inhaltlichen Kurs. Während die Staaten der von Kuba und Venezuela gegründeten Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA) für eine soziale Integration und eine Überwindung des Kapitalismus plädieren, hängen Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile, die sich zur Pazifik-Allianz zusammengeschlossen haben, dem neoliberalen Wunschtraum nach, daß Wirtschaftswachstum alle Probleme löst. Einig sind sie sich jedoch, daß sie nur durch ein gemeinsames Auftreten auf der Weltbühne verhindern können, in der Konkurrenz zwischen USA, EU und China zerrieben zu werden. Das haben sie in Santiago unter Beweis gestellt.

Erschienen am 28. Januar 2013 in der Tageszeitung junge Welt